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KRANKHEIT

I


Die kleine Klappe scheint in unvorstellbar weiter Entfernung zu liegen. Unerreichbar für die zitternde Hand. Angstschweiss tritt auf die Stirn. Eiserne Konzentration in die Augen. Inmitten dieses Chaos der Angst wird die kleine Klappe des Ablagefachs zum Zentrum des Universums. Zumindest des Universums von Kapitän Erhardt, der mit absoluter Konzentration versucht, dieses Zittern in seiner Hand unter Kontrolle zu bringen, während er irgendwo unter der Oberfläche seiner Angst das Brodeln der nackten Panik fühlt, die jetzt auf gar keinen Fall durchbrechen darf. Er muss es schaffen.
Erhardt nestelt am Verschluss der Klappe herum, immer nervöser, mit dem Schatten der Panik im Rücken und dem Angstschweiss der anderen, der die Kommandokanzel des Schiffes durchdringt, in der Nase. Aber er schafft es trotz fahrigen Bewegungen. Die Klappe ist auf und er greift hinein. Einen Moment lang bricht die Panik beinahe durch, als er auf dem Boden des Ablagefachs herumwühlt und dort nichts zu finden vermeint. Aber dann treffen die zittrigen Finger doch auf das Gesuchte. Einige Rollen sind noch da. Ein ausgespreizter Finger nach noch weiter hinten bestätigen ihm den Vorrat von noch einem weiteren Kästchen.
Noch bevor er das bereits vorgerollte Stäbchen herauszieht, fühlt Erhardt sich schon erleichtert. Noch immer zittrig, noch immer in Angst, aber die Panik ist fürs erste einmal mehr gebannt.

Jetzt das Feuerzeug. Hat noch genug Brennstoff. Man erkennt es gegen die matte Beleuchtung der Kanzel. Aber es springt nicht an. Noch mal versuchen. Noch einmal. Jetzt. Eine erlösende Flamme tanzt auf dem Feuerzeug und er führt sie so beherrscht als möglich an das Stäbchen zwischen seinen dünnen Lippen. Er saugt den Rauch langsam in den Mund, stossweise durch die Nase ausatmend, bis sein Mund ganz mit dem süsslichen Geschmack des Rauches erfüllt ist, bevor er einzieht, tief in die alten Lungen, um ihn dort lange zu halten. Er atmet erst aus, als der erste Zug seine Wirkung zu entfalten beginnt. Die zitternden Hände werden ruhig, eine unwirkliche Entspannung legt sich wie ein Film über seine Angst. Er kann gefasst noch einen weiteren Zug nehmen, bevor er sich auf seinem Sessel quietschend zu den anderen umdreht.

"Karl?" fragt er in die schaurige kleine runde im fahlen Licht hinein. Nur fünf sind ausser Erhardt anwesend. Karl, der mit Maciej am Ersatz für den Navigator herumbastelt und dann noch Christophe, Hermann und Dag, von denen nur einer, Christophe, überhaupt etwas macht. Er studiert ein Bild auf einem Bildschirm auf einer Konsole. Hermann und Dag sitzen in einer Art Halbschlaf an ihren momentan nutzlosen Posten herum und dösen so gut sie es in der Situation können.

"Ja, Moment." antwortet Karl, bevor er sich von der Bastelei am Boden erhebt und zu Erhardt herüber geht und das Stäbchen von ihm nimmt. Er zieht in einer ähnlichen Weise daran, nickt, und nimmt es dann mit, um Maciej auch ein paar Züge zu geben.

"Ist nicht mehr viel da." sagt Erhardt wieder in den Raum hinein, eigentlich ohne Interesse daran, ob ihm jemand zuhört. Es reagiert auch keiner. Der Raum fühlt sich viel zu heiss an. Stickig.

"Hast du etwas, Christophe?" fragt Erhardt jetzt.

"Nicht viel. Man kann es nicht scannen. Scheinbar hat es auch keine äusseren Signaturen oder ähnliches. Ich kann keine Bewaffnung erkennen. Aber die müssen sie ja haben..."

"Und die Meldung?" Erhardt erwartet auch darauf nicht viel neues.

"Frag Dag, wenn er wieder wach ist" gibt Christophe zurück.

"Ich bin wach, Mann. Die Maschine läuft ja nur mit halber Kraft weil die beiden tollen Mechaniker alles für ihren künstlichen Scheiss-Navigator brauchen, der uns auch nicht hier raus bringen wird!" tönt es aus der anderen Ecke des Raumes. Dag klingt erstaunlich wach und kräftig für sein Aussehen, das eher dem Umstand von drei schlaflosen Nächten hintereinander entspricht.

"Bis jetzt habe ich genau ein Wort. Das ist "Erhalten" und es ist das letzte in der Botschaft. Soweit die Maschine sagt, ist die Sprache vermutlich Rus, aber eine Form davon, die sie auch nicht kennt. Und in dem Speicher sind über dreissig Millionen Sprachen. Verdammt!"

"Schon gut. Es dauert solange es dauert." Erhardt winkt beschwichtigend in Dag's Richtung ab. "Immerhin haben wir ein Wort. Besser als nichts. Vielleicht erfahren wir, wenn wir den ganzen Scheiss aufgeschlüsselt haben, warum die uns nicht antworten lassen. Was machen sie zur Zeit, Christophe?"

"Das gleiche wie immer. Sie liegen vor uns. Vielleicht sollten wir doch einmal ein Fenster aufmachen. Ich meine, bloss um zu sehen ob sie wirklich noch da sind. Ich traue dieser Übertragung nicht." Inzwischen hat Christophe das Stäbchen im Mund.

"Ganz bestimmt nicht. Nicht solange ich dieses Schiff noch führe! Bist du wahnsinnig? Im Unraum das Fenster öffnen? Mann, wir sind tatsächlich alle völlig am Arsch." Erhardt starrt Christophe an. Der steht gross, dünn und hochgewachsen an seiner Konsole und zieht am Stäbchen, ohne Erhardt zu beachten, der seinerseits kaum mehr ist als eine nicht minder hagere, in ihrem Sessel zusammengesunkene Gestalt mit dickem Schnauz und einer Kapitänsmütze auf den ergrauenden Haaren.

"Schon gut." sagt Christophe. "War bloss ne dämliche Idee." Er gibt Erhard den Stummel des Stäbchens zurück und geht wieder an seine Arbeit.

Erhardt zieht sich den Rest rein und sagt dann wieder in die ganze Runde: "Hört zu Leute. Wir machen jetzt auf keinen Fall irgendwelchen Scheiss. Wir werden einfach so weitermachen wie bisher. Als wäre dieses verfluchte Schiff da draussen gar nicht da. Und wenn die beiden unseren Navigator ersetzt haben" - Erhardt ignoriert das prompt kommende "Nie!" von Dag - "dann werden wir uns so schnell wie möglichen über den nächsten Sprung absetzen. Und es ist mir verflucht egal, wo wir dann rauskommen. Und wenn's ein paarhundert Lichtjahre von Prishtine entfernt ist. Dann mache ich dort, egal wo, erstmal zwei Jahre Urlaub und dann denke ich vielleicht drüber nach, mal zurückzufliegen."

"Vergiss nicht" wirft Dag, in seinem Sessel hängend, ein "dass draussen möglicherweise eh schon ein paar Jahrzehnte rum sind. Jahrhunderte vielleicht."

"Ja. Ich weiss." seufzt Erhard, während er den Stummel achtlos am Metall seiner Konsole ausdrückt. "Ich geh jetzt auf Tour. Vielleicht hat Thal ja inzwischen den Alk fertig."

Er erhebt sich mühsam und doch eigenartig leicht in seinem Rausch aus dem Sessel und schreitet durch die traurige Versammlung zur Tür. Er achtet gar nicht mehr auf die Gestalten um ihn herum in ihren diversen Tätigkeiten oder Nichtstuereien. Er muss seinen Rundgang jetzt machen, wo er nervlich gefestigt genug dafür ist.


II



Ein dumpfes Dröhnen hallt durch den eisernen Korridor des Schiffes. Das dumpfe Pochen des mechanischen Herzens des grossen Transporters, der jetzt seltsam verlassen und leer wirkt. Seine Gänge ein Labyrinth voller Echos und unheimlicher Geräusche. Die Truppen der Armee wurden Gemäss dem Auftrag bei Tyrhane III abgesetzt und die Rückreise sollte eigentlich ganz anders verlaufen als es dann der Fall war. Nun ist das Schiff ein Stück gestrandetes Material inmitten des Unraumes, des Immateriums. Ein verschlossener Sarg für die verbleibende Mannschaft. Ein Sarg, in dem man lebendig begraben liegt. Wie viele sind noch übrig. fünfzig Mann stark war Erhards Mannschaft zu beginn der Fahrt. Jetzt liegt der grösste Teil davon in den Kabinen und siecht vor sich hin im Delirium einer undefinierbaren Krankheit, einem Geschenk aus diesem anderen Sarg, der da vor dem ihren im Unraum liegt und sie anschweigt, seit er die Eingänge des Transporters mit eigenartigen Minen versehen hat, von denen man an Bord inzwischen als sicher annimmt, dass sie irgendwie den Erreger durch die Schleusen gebracht haben.

Erhardt hat sich mehr als einmal gefragt, warum er zu den Ausnahmen gehört, den wenigen, die nicht infiziert wurden. Der Schiffsarzt und alle seine Lexica haben keine Antworten gefunden. Die Krankheit bleibt undefinierbar und unheilbar. Warum tötet sie nicht? Wenn sie dehydriert, wenn sie die Nahrungsaufnahme verunmöglicht, warum sterben die Leute dann nicht?

Keine Antworten. Nur weitere Fragen, immer weitere Fragen in den drei Wochen, in denen die "Stalin" schon hier im Unraum liegt. Auge in Auge mit dem anderen, unbekannten Schiff.
Wochen des Siechtums und der äussersten nervlichen Belastung haben aus der verbleibenden Mannschaft einen Haufen von dauernarkotisierten Halbwahnsinnigen gemacht. Erhardt nur einer von ihnen. Wenn es den verfluchten Navigator nicht erwischt hätte, wäre alles anders gekommen. Aber so...

Die Geräusche des Schiffes begleiten Erhardt bei seinem Schreiten durch die langen, muffigen Korridore. Die Krankheit hat nicht nur entsetzliche körperliche Folgen. Sie stinkt auch. Sie stinkt nicht nur wegen der ausgemergelten lebenden Leichen, die sie fabriziert, sondern sie stinkt auch selber. Die Luft stinkt. Aber es ist nicht ein bekannter Gestank. Es scheint Erhardt vielmehr so, als ob man alle stinkenden, ekelhaften Dinge des Kosmos genommen und sie zu einem Brühwürfel gepresst hätte, von dem man dann eine hauchdünne Essenz hier mit der Atemluft vermischt hat.

Hohl hallen seine einsamen Schritte durch die langen Gänge wieder. Die Schatten scheinen seine Kapitänsuniform nur noch zu verhöhnen. Er ist froh, jetzt noch nicht an den Mannschaftsquartieren vorbeigehen zu müssen mit ihren abscheulichen Geräuschen hinter den abgedichteten Türen. Später wird ihn sein Weg daran vorbeiführen. Später...

Er durchwandert den bleiernen Sarg auf dem Weg zu Maschinenraum, zu Thal, dem Maschinisten. Erhardt weiss, dass die Maschinen perfekt laufen. Er geht zu Thal, um dessen Produktion von Treibstoffschnaps zu überwachen. Der ganze übrige Schnapsvorrat im Schiff, der aufgrund der immer drohenden Inspektionen sowieso klein gewesen ist, ist längst aufgebraucht. Und jetzt, wo das Lho auch langsam zu Ende geht, macht sich jeder seine Sorgen, wie er die ganze Situation für die nächste Zeit weiter auf Distanz halten kann.

Niemand ist mehr in den Gängen. Am Anfang waren ihm ab und zu wenigstens noch zwei, drei Besatzungsmitglieder begegnet. Jetzt sind die Gänge nur noch ein gähnender, horizontaler Abgrund. Seine ganze Existenz fühlt sich für Erhardt wie ein ungebremster Fall an. Zumal er weiss, dass diese Geschichte mit dem künstlichen Navigator nicht funktionieren wird. Dag hat recht. Sie sind alle verloren hier. Die Lebenden und die lebenden Toten.

Aber das ist nicht einmal das Hauptproblem. Das Sterben an sich ist nicht der eigentliche Schrecken des Verlorengehens im Unraum. Der wirkliche Schrecken liegt ein paarhundert Kilometer vor der "Stalin". Ein paar hundert Kilometer weg und einige Quadratkilometer grösser als die "Stalin" selbst. Und manövrierfähig. Soviel steht fest. Der wahre Schrecken im Unraum sind solche Begegnungen. Die Dämonen des Immateriums... die Legenden und Geschichten, die man in der Ausbildung erzählt bekommt und niemals wirklich glaubt oder gar nicht glaubt...
...aber dieses Schiff vor ihnen, dieses verdammt grosse Teil, ist kein Dämon. Es ist nicht einmal fremdartiger Bauart. Es ist ganz eindeutig ein von Menschen gebautes Schiff. In seiner Form nicht einmal unähnlich dem Transporter, den er hier selber befehligt. Warum antworten die Typen dann nicht? Und warum senden sie uns Botschaften in ausgestorbenen Sprachen?

Wie lange ist dieses Schiff schon im Unraum? Vielleicht lang genug, dass die Sprache der Mannschaft völlig vergessen wird? Aber sie sind manövrierfähig. Sie könnten jederzeit raus....

Immer weiter hämmern die immer gleichen Fragen durch Erhardts Gehirn, mit dem Tempo seiner Schritte, die ihn jetzt eine Treppe hinab zu den unteren Decks führen. Er vertraut trotz der Zusicherungen von Thal nicht mehr in die Lifte und andere Apparaturen des Schiffes.

Weiter wieder durch endlose Gänge, darauf vertrauend, dass die Wirkung der Raucherware noch lange genug vorhalten wird. wenn die Angst zurückkehrt, ist sie mit jedem mal ein bisschen stärker. Wegen der Entzugserscheinungen. Momentan sind seine Hände noch ganz ruhig an seiner Seite. Er erreicht die grosse Tür zum Maschinenraum. Das Schiffsherz schlägt ihm mit monotoner Wucht entgegen. Nur in Bereitschaft. Falls sich diese Motoren jemals wieder wirklich in Betrieb setzen werden, wird erst der wahre Puls spürbar werden.

Der Maschinenraum ist gross. Erhardt entdeckt Thal dort, wo er ihn vermutet. Der grosse, breite und glatzköpfige Maschinist steht zusammen mit Arnauer vor seinem selbst gebastelten Destilliergerät. Die beiden sehen auf, als Erhardt sich ihnen nähert.

Arnauer hält ein gefülltes kleines Glas hoch und nickt Erhardt zu. "Kein Fusel. Der Mann da ist ein Genie. Ich kann ihnen als ihr Schiffsarzt versichern, dass dieser Schnaps hier keine über das normale hinausgehende Schädigung verursachen wird." Und wie um dies zu beweisen, nimmt Arnauer gleich selber einen kräftigen Schluck aus dem Glas. Seine Augen sind so glasig wie das Glas selbst. Er hat schon lange hier gestanden und ‚degustiert'.

Erhardt nickt nur zurück und bedeutet Thal mit einer Handbewegung, ihm auch gleich ein Glas zu füllen. "Wie viel davon kriegst du zusammen?" fragt er Thal, als dieser ihm das Glas reicht.

Thal sieht einen Moment zu seinem Gerät, dann in eine andere Richtung. Dort steht vermutlich irgendwo eine Anzeige, wie viel Treibstoff noch da ist.
"Also ich denke" beginnt Thal "wenn wir genug Saft drin lassen, damit wir's im Ernstfall zum nächsten Sprung schaffen... hmmmm... na ja.... so in etwa vier- bis fünfhundert Liter.... Das heisst, natürlich nur wenn ich diesen Handbetrieb hier auf Automatik kriege." Er deutet auf sein Gerät.

Erhardt nickt. Einen Augenblick nur zögert er. Er denkt an eine Geschichte, die er in seiner Jugend gehört hat. Dort haben Matrosen auf einem Seeschiff aus Treibstoff Schnaps gebrannt und waren alle dran krepiert. Bis auf einen, der "nur" blind geworden war. Aber das waren Seematrosen.... und was soll's eh? Er setzt sich das Glas an die Lippen und spült das Zeug, das mal Treibstoff war, hinunter. Scharf brennt es sich seinen Weg in die Eingeweide hinab. Es ist zum Kotzen und hat bestimmt so um die 80 Prozent. Egal.

"Du bist autorisiert" sagt er zu Thal "alles erforderliche hier zu tun um von dem Zeug soviel wie möglich zu machen."

"Mann, vier- bis fünfhundert Liter!" ruft Arnauer mit unverhohlener Begeisterung. "Wir werden uns längst totgesoffen haben wenn diese Schweine uns entern!"

Erhardt sieht ihn nur an. "Wieso kommst du auf die Idee dass sie uns entern wollen? Das hätten die doch längst tun können. Wir sind doch schon erledigt."

Arnauer macht jetzt ein betretenes Gesicht. "Ich weiss doch auch nicht... Sie müssen ja etwas wollen? Oder?"

"Vielleicht sitzen die auch nur vor ihren Bildschirmen und holen sich einen runter während sie uns beim Krepieren zuschauen?" Schlägt der immer noch erstaunlich nüchterne Thal vor und beide anderen Männer schauen ihn nur verdutzt an.

"Wer weiss, was für Perverse im Unraum rumhocken?" sagt Thal fast entschuldigend und beginnt damit, an seiner Apparatur herumzuwerkeln.

Erhardt hat sich selber noch ein Glas genehmigt. "Komm mit." sagt er zu Arnauer. "Zeig mir, wie es unseren Sorgenkindern geht. Blau genug bist du jetzt ja wohl."

Nur widerwillig beginnt Arnauer, sich in Bewegung zu setzen. "Ja, also... eigentlich gibt es kaum was neues.... eigentlich gar nichts...ausser... du musst es dir selbst anschauen."

Sie verlassen zusammen den Maschinenraum und beginnen die Wanderung zu den Mannschaftsquartieren. Ihre Stimmen vereinen sich in den Gängen mit den Geisterhaften Echos im verlassenen Transporter.

"Keine Toten? Immer noch nicht?" fragt Erhardt, der die Antwort schon lange kennt, bevor Arnauer sie mit verschliffenen Konsonanten gibt.

"Nichts... sie... krepier'n einfach nicht... Und die Analyse hat den Erreger jetzt herausgefiltert, behauptet aber, dass's n' normales Grippevirus ist. Was nicht stimmt. Was ich dir beweisen kann, Thomas."

"Was besonderes" fragt Erhardt abwesend zurück. Mit den Gedanken immer noch bei den permanent sterbenden und nie toten Besatzungsmitgliedern.

"Sehr besonders, wirklich... Wir sollten zuerst zu mir ins Labor gehen. Ich zeig's dir. Vielleicht wirst du's dann immer noch nicht glauben..."

Erhardt ist nicht undankbar für diesen weiteren Aufschub der Inspektion der Mannschaftsquartiere. Und so setzen sie ihren Marsch schweigen fort, bis sie nach vielen weiteren brütenden Minuten die Tür zu Arnauers Labor erreicht haben.

Mit alkoholhaltigem Schwung schreitet Arnauer hinein und wirft beiläufig das grelle, weisse Licht an, dass beiden Narkotisierten sofort in die geweiteten Pupillen sticht. Aber das Empfinden ist schnell vorbei und Arnauer ist bereits zu einer Wand mit Rechnern und anderen Instrumenten herüber gegangen. Er wirft einen Bildschirm an. Darauf erscheint ein Bild. "Komm her, Thomas. Sieh es dir an." Arnauer winkt Erhardt heran.

"Was ist das?"

"Das, Thomas, ist einer von den Erregern."

"Du machst Witze. Oder?"

"Nein. Bin nicht zum scherzen aufgelegt."

"Dann ist der Erreger künstlich?"

"Laut der Analyse nicht. Dieses Schildchen ist offenbar tatsächlich ein Teil des Dings."

"Haben die alle so eine Markierung? Alle Erreger?"

"Jawoll! Alle. Aber es wird noch besser. Schau her!" Arnauer drückt ein paar Tasten und das Bild wird weiter vergrössert.

"Das darf nicht wahr sein!"

"Ist wahr!"

"Was heisst das?"

"Kann diese Hieroglyphen nicht lesen, du etwa?"

"Nein... natürlich nicht. Aber das ist doch auch bestimmt kein Rus, oder?"

Arnauer zuckt die Schultern "Weiss nicht."


Erhardt tritt ein wenig von dem Ding auf dem Bildschirm zurück. "Gut... äh, dann wissen wir jetzt, dass dies Mikroorganismen offenbar alle markiert sind. Wer auch immer auf eine so verdammt bescheuerte Idee kommen kann und dann auch noch die Möglichkeit hat, das zu tun... oh Scheisse, das sind wirklich kranke Schweine da drüben." Erhardt überlegt noch einen Moment, betrachtet weiter das Bild und fügt dann hinzu "Ist das Geschriebene... immer das gleiche?" Erhardt weiss, dass wenn Arnauer jetzt sagt, dass es immer was anderes ist, er auf der Stelle wahnsinnig werden wird. Aber er wird verschont.

"Immer das gleiche. Aber wer immer so ein Ding züchtet... ...züchten kann, der muss wirklich ein verflucht fähiger Psychopath sein."

Erhardt starrt weiter auf das Bild. Der Erreger an sich ist ein unförmiger Klumpen, so wie alle anderen Einzeller auch. Aber auf seiner Oberfläche ist ganz deutlich, in klaren Umrissen eine Fliege gezeichnet. Eine Fliege. Und unterhalb dieser Zeichnung sind Hieroglyphen erkennbar.
Erhardt ist dankbar, als Arnauer endlich den Mistkasten abstellt. Soviel zur einen Härte. Jetzt zur anderen. Die beiden verlassen das Labor und begeben sich zum Korridor mit den Mannschaftsquartieren.

"Es geht eigentlich allen genau gleich. Ist egal, welchen ich dir zeige." sagt Arnauer, als sie den Gang erreichen, der neben den anderen Geräuschen von einem Geräusch schweren Atmens und einem abartigen Gurgeln und Stöhnen erfüllt ist. Ausserdem ist der Gestank hier grösser als im Rest des Schiffes. Früher noch hatten sie hier immer Schutzanzüge an, aber dann hat einer mal im Fieberwahn die Maske von Arnauer abgerissen und der hatte sich trotzdem nicht angesteckt. Später hat dann die Analyse bestätigt (oder einfach behauptet) dass die nichtinfizierten auch nicht gefährdet seien. Der Rechner hat für diese Erkenntnis länger gebraucht als die Menschen. Denn nach einer Woche in dieser Pestilenz und immer noch am Leben hat ihnen allen klargemacht, dass sie offenbar Auserwählte sind.

"Gut, dann zeig mir Daschner. Mit der Sau hab' ich kein Mitleid. Du weisst, was wir bei dem für Pornos auf'm Privatarchiv gefunden haben."

Arnauer nickt, während er die Türen abschreitet, die Nummern beachtend. "Hier ist er. Bist du bereit?"

Erhardt nickt und Arnauer drückt einen Knopf in der Wand. Die Tür gleitet erst zischend nach innen und dann auf. Eine Welle unglaublichen Gestanks tritt aus dem Raum. Beide Männer halten sich automatisch die Hände vors Gesicht und unterdrücken den Brechreiz mit einiger Anstrengung. Aber man gewöhnt sich daran. "Gut, geh'n wir rein," sagt Arnauer und lässt sich vom alkoholverliehenen Mut in die Kabine tragen. Erhardt folgt ihm, immer noch mit einem Würgen kämpfend.

Arnauer stellt das Licht ein. Die Kabine ist leer. Alles brauchbare Gerät herausgeräumt. Daschner, beziehungsweise das, was von ihm noch übrig ist, liegt auf dem Bett. Er sieht aus wie eine Mumie. Wie eine sehr, sehr alte Mumie, die man etwa dreimal angezündet, in Säure geworfen, dann geräuchert und vierzig Jahre lang damit Fussball gespielt hat. Das einzige, was darauf hinweist, dass dieses Ding lebt, ist das abartige Geräusch, das Daschner beim Atmen macht.

"Verfluchte, verkackte Scheisse!" flüstert Erhardt. "Er sieht noch verschissener aus als letztes Mal. Alle so?"

Arnauer nickt nur. "Es gibt auch hier etwas neues. Komm mal näher an ihn ran. Arnauer ist nun direkt neben das metallene Bett getreten, auf dem das Daschner-Ding nackt liegt. Man musste den Kranken die Kleidung abnehmen, da die aus allen Körperöffnungen tretenden Säfte den Gestank endgültig unerträglich machten.

Erhardt versucht kurz, seinen Beinen den Befehl zum gehen zu geben, aber sie versagen ihm fast. Er schüttelt nur heftig den Kopf. Was zum Teufel will Arnauer ihm jetzt wieder zeigen.

Arnauer beugt sich nur leicht herab, sieht kurz zu Erhardt herüber und dann wieder zu Daschner. Er sagt: "Hey, Daschner, alte Sau, hörst du mich? Eh, Drecksack, mach die Augen auf."

Erhardts eigene Augen weiten sich in Entsetzen, als das Ding tatsächlich beginnt, seine Augen zu öffnen. Die Augen sind milchig und trüb. Kein Anzeichen, ob sie etwas sehen oder nicht. Ihrem Aussehen nach eher nicht...

Arnauer macht weiter: "Daschner? Wie geht's dir? Kannst du verstehen was ich dir sage?"

Und tatsächlich beginnt das Ding zu nicken. Zwar langsam, aber eindeutig.

"Hast du Schmerzen?"

Wieder ein Nicken. Erhardt ist unwillkürlich einige Schritte zurückgegangen. Er bemerkt das erst, als er mit dem Rücken an die Kabinenwand stösst.

"Hast du geschlafen?"

Jetzt schüttelt das Ding eindeutig den Kopf. Er ist bei vollem Bewusstsein.

"Siehst du mich?"

Wieder ein Nicken. Das Ding kann mit diesen Murmeln tatsächlich etwas sehen.

"Daschner, möchtest du sterben?"

Ein Nicken. So energisch es diesem Ding möglich ist. Arnauer wendet sich kurz zu Erhardt um. "Ich habe mir nicht deine Erlaubnis eingeholt, Thomas, aber ich hab in diesen Bastard alles an Gift reingepumpt, was mein Labor hergab. Nichts. Er krepiert nicht nur nicht, er kann gar nicht krepieren."

Das Daschner-Ding schliesst die Augen wie in einem schmerzverzerrten Gesicht, obwohl es längst keine Mimik mehr hat.

"Dann... dann geh verdammt beiseite, Dieter!" keucht Erhardt, während er nach der Pistole in seiner Manteltasche fummelt und sie hervorzieht. Dieser Schuss kann daneben gehen, aber Erhardt wird unter gar keinen Umständen näher an dieses Ding rangehen.

"Halt, warte noch!" ruft Arnauer, aber Erhardt hat genug und drückt ab. Das Projektil durchschlägt Daschners Ex-Kopf und verteilt dessen Ex-Hirn in einer Fleischcollage an der Kabinenwand. In der Stille nach dem Schuss sind von Daschner keine Atemgurgelgeräusche mehr vernehmbar.

Nachdem Erhardt sich erholt hat sagt er leise: "Sie können sterben. Nur die Methode ist etwas unsauber."

Aber Arnauer sieht ihn nur an und sagt: "Nun muss ich dir das weitere eben an einem anderen zeigen. Gibt's noch jemanden, den du nicht magst?"

"Es gibt zumindest welche, die mir ziemlich egal sind. Wie wärs mit dem kleinen Dicken. Prochnow oder so?"

"Der ist jetzt nur noch klein. Gut, komm mit. Du wirst noch staunen." sagt Arnauer, als er schon wieder voraus aus der Kabine und zu einer anderen geht. Es folgt die selbe Prozedur des Türöffnens, sich fangens und Eintretens. Die Gestalt, die sie hier auf der Pritsche vorfinden, unterscheidet sich tatsächlich nur in ihrer Grösse von dem Daschner-Ding.
Diesmal geht Arnauer direkt auf die Gestalt zu, spricht sie an wie zuvor den jetzt wirklich toten Daschner. Auch das Prochnow-Ding öffnet in gleicher Weise die Augen, nickt oder schüttelt den Kopf auf die Fragen von Arnauer. Erhardt betrachtet die Szene mit Abscheu aus grösstmöglicher Entfernung. In seiner Manteltasche kann er den Griff nicht mehr von seiner Waffe lösen. Er bereitet sich darauf vor, erneut zu schiessen. Das sind ja schliesslich nicht mehr Mannschaftsmitglieder, und selbst wenn die "Stalin" sich aus dieser Situation irgendwie befreien kann, wird es für diese Ex-Menschen keine Hoffnung mehr geben. Kann es sein, dass es in dieser Kabine noch gewaltiger stinkt als in der von Daschner?

Aber nun geschieht etwas neues: Arnauer fummelt in seinem weissen Kittel herum. Bis jetzt hat Erhardt vermutet, dass das lange Ding, dass Arnauer dort trägt, ein Gewehr oder sonst eine Waffe ist, aber nun holt Arnauer eine einfache, etwa vierzig Zentimeter lange Metallstange hervor. Was will er damit? Arnauer spricht wieder zu dem Prochnow-Ding:

"Prochnow? Kannst du aufstehen?"

Kopfschütteln. Was soll das, fragt sich Erhardt. Aber Arnauer beachtet nur seinen Patienten, er fährt fort: "Aber deine Arme kannst du heben, oder?"

Unglaublicherweise folgt darauf ein Nicken und das Ding beginnt tatsächlich, seine Arme in Zeitlupe zu heben. Arme, die im Prinzip nur noch Knochen sind. Aber noch während Erhardt erstaunt zusieht, führt Arnauer ihm die nächste "Sensation" vor.

"Ich habe hier etwas, Prochnow." sagt Arnauer. "Es ist ein Zeigestock. Aus Holz. Kannst du ihn halten?"

Daraufhin gibt er dem Prochnow-Ding die Metallstange in die Hände. Dieser kann die Stange wirklich halten. Mit quälender Langsamkeit schliessen sich die Finger um die Stange.

"Hast du ein Gefühl in deinen Händen?" fragt Arnauer. Ein langsames, kaum erkennbares Kopfschütteln.

"Gut. Ich möchte, das du etwas tust. Zerbrich diesen Stock, wenn du es noch kannst."

Dann tritt Arnauer zur Seite und bedeutet Erhardt mit einem Kopfnicken, jetzt ganz besonders genau hinzusehen. Und noch während sich in Erhardts Gehirn eine schreckliche Vorahnung zusammenbraut, beginnt Ex-Prochnow schon damit, diese in den Schatten zu stellen.
Mit der grausamen Langsamkeit von vorhin beginnt das Ding, seine Arme zu bewegen, die Hände fest um die Stange geschlossen. Die Stange zerbricht nicht, aber Prochnow schafft es tatsächlich, sie massiv zu verbiegen.
Mit der verbogenen Stange in seinen Händen liegt Ex-Prochnow da, starrt ins Leere und regt sich nicht. Arnauer tritt heran und nimmt ihm die Stange sanft aus den Händen. Er hält sie Erhardt hin. "Kein Trick, Thomas. Das ist echt."

Erhardt schüttelt nur heftig den Kopf. Er wird diese Teile keinesfalls anfassen. Er zieht die Pistole und feuert unvermittelt in den Kopf von Ex-Prochnow, bevor er aus der Kabine stürzt, und den Gang entlang rennt. Nur weg von diesem grauenhaften Schnaufen, Gurgeln und dieser scheusslichen Pestilenz. Erhardts Augen sind glasig. Er kennt sein Ziel. Die Kommandokanzel. Order geben: alle töten!

Arnauer rennt ihm keuchend nach, holt ihn ein, packt ihn von hinten am Mantel. "Halt, warte noch... wir sollten vielleicht noch warten und beobachten...."

Aber Erhardt schüttelt ihn ab, brüllt ein "Nein!" nach hinten und rennt weiter die Gänge entlang, Treppen hinauf, dem Entsetzen davon. Irgendwann hält er kurz inne. Wo ist er? Deck 4 wahrscheinlich. Ja, dort hinten ist die Kantine. Er geht dann langsamer weiter. Hinauf, zur Kommandokanzel. Irgendwo weit unter und hinter ihm ist Arnauer immer noch in diesem höllischen Reich und macht in seinem Suff Experimente mit diesen verfluchten Dingern. Aber nicht mehr lange. Das wird aufhören. Schnell.


III



Er findet die Kanzel fast genauso vor, wie er sie verlassen hat. Bloss Maciej ist nicht da. Karl gibt ihm Bescheid, dass Maciej sich für ne Weile im Lagerraum hingelegt hat. Aber Erhardt ist zunächst einmal alles ziemlich egal, was er hört. Er geht erst mal an sein Ablagefach bei seiner Konsole und holt ein weiteres Stäbchen raus, dass er sich anzündet.

"Nur für mich, Leute. Tut mir leid." sagt er zu den anderen, aber von ihnen abgewandt. Ist auch egal. Dag pennt jetzt eh richtig, mit Schnarchen und so. Hermann döst immer noch rum und der Übersetzer gibt Geräusche der Tätigkeit von sich. Karl flucht am natürlich nicht funktionsfähigen Navigator-Ersatz rum und Christophe ist immer noch der einzig wache und aktive in der Runde.
Erhardt will ihnen eigentlich sofort den Befehl erteilen, runter zu gehen und dort Schluss zu machen mit was auch immer in diesen Kabinen dort entsteht. Aber er sieht sich momentan dazu ausserstande, Er zieht weiter den vernebelnden Rauch des Lho in sich hinein und geniesst sein hinabgleiten auf eine geschütztere innere Ebene. Er sieht aus dem Augenwinkel, wie Christophe auf ihn zutritt.

"Käpt'n, kann ich dich kurz mal sprechen, eh?" Christophe macht eine Kopfbewegung in Richtung Tür. "Draussen. Auf dem Gang?"

Erhardt nickt nur und geht mit Christophe raus. Die anderen reagieren gar nicht auf sie.

Draussen auf dem Gang druckst Christophe eine Weile herum. Erhardt beobachtet die Bewegungen von Christophe mit der eigenartig gesteigerten Aufmerksamkeit für Details, die man unter Drogen entwickelt. Ihm ist bis jetzt noch gar nie richtig aufgefallen, dass Christophe permanent den linken Mundwinkel etwas hochzieht, wenn er nervös ist.
Irgendwann fragt Erhardt: "Ja, was gibt's?"

Christophe scheint immer noch Mühe zu haben, den Anfang zu finden. "Also... äähm.... na ja..."
Erhardt hört sich das wieder eine Weile an. Sagt dann: "Na los, Mann, spuck aus was du nicht schlucken kannst."

"Nun... hmm... ja, gut. Also.... hast du auch schon mal von, ähm, den... Dings gehört? Du weisst schon... ja?"

Aber Erhardt sieht ihn nur fragend an. Was meint Christophe?

"Den Dings? Junge, ich hab im Leben schon von verdammt vielen Dings gehört. Du solltest etwas präziser werden."

"Ja... gut. Also ich meine... du weisst schon... Die Krieger."

"Die Krieger?"

"Nicht Soldaten... die..."

"Ach, die heiligen Krieger des Imperators?" Erhardt hat den Nagel auf den Kopf getroffen.

"Genau, die. Du hast davon gehört."

"Ein Märchen. Eine von etwa tausend Sagen, die ich gehört habe. Worauf willst du eigentlich hinaus, Christophe?"

Jetzt hat sich Christophe's Gesichtsausdruck verändert. Aber Erhardt vermag nicht zu sagen, in welche Richtung.

"Das ist keine Legende, Käpt'n. Ich hab sie einmal gesehen."

Erhardt muss lachen. Und er ist dankbar dafür. Christophe hat von allen immer am meisten gefasst gewirkt in ihrer Situation. Nun weiss Erhardt warum. Christophe ist übergeschnappt.

"Geseh'n hast du die? Erzähls mir." immer noch grinsend und immer noch dankbar für die kleine Entspannung.

"Ich hab sie nicht selber gesehen.... wo... woher kommst du eigentlich, Thomas...äh, Käpt'n?"

"Stockstadt. Das liegt in Temnojar, auf Prishtine. Wieso fragst du?"

"Nun, weisst du, Käpt'n..."

"Thomas."

"Danke... weisst du, ich komm gar nicht ursprünglich von Prishtine. Ich leb seit dreissig
Jahren dort, aber aufgewachsen bin ich auf Alvarez, in Tysk, um genau zu sein."

"Mann, du hast echt kein' Akzent. Ich kenne Tysk."

"Ich bin gut mit Sprachen. Ja, also... so als ich achtzehn war, wollte ich zur Armee. Nicht zur grossen. Zur Heimatgarde von Alvarez...."

"Ja....?"

"Ja, und da ging ich dann auch hin und war Rekrut. Ich hab dann zwei Jahre lang gedient... irgendwann mal hatten wir Typen da von der imperialen. Solche Köpfe wie wir sie vorhin nach Tyrhane verfrachtet haben. Aber da waren hohe Tiere bei. Und Priester. Richtig unheimliche Typen. Die haben dann Vorträge gemacht, wo wir alle hin mussten. Es ging eigentlich hauptsächlich darum, dass in umliegenden Systemen Kriege ausgebrochen wären und so weiter. Wie wir uns zu verteidigen hätten und was da alles kommen könnte. Das waren ganz reguläre Armeen, die sie uns gezeigt haben... ist ja eh nix passiert danach... Aber einmal gab's nen anderen Vortrag. Einer von einem Priester. Den Typ hättest du sehen müssen. Echt. Der war nur zur Hälfte ein Mensch. Der Rest war eine Maschine. Wirklich. Also, der Typ ist auf einer Bühne und da waren rings herum noch andere Kirchentypen. Alle ultrabrutal mit Waffen und voll grimmig und alles.... Der Priester hatte ne Leinwand hinter sich und dann hat er angefangen... Mann, den Vortrag werde ich nicht vergessen. Auch wenn ich so gut wie nichts verstanden habe...."

Einen Moment lang sieht er Erhardt an, wie durch ihn hindurch, in seine eigene Vergangenheit. Als Erhardt ihn auffordert, fährt er fort:

"Der Pfaffe fing an rumzubrüllen, der hat den ganzen Saal voll durchgefegt. Er redete immer nur über das Imperium und von wegen heiligem Krieg und unserer Pflicht und von der Geschichte. Der hat uns fertig gemacht... aber es war geil, das sag ich dir. Dann hat er immer Filme einspielen lassen, eben zur Geschichte. Da waren Aufnahmen aus Kriegen... und da waren die heiligen Krieger auch dabei. Sie sahen genau so aus, wie man sich erzählt... na ja... fast genau so. Riesige Typen halt, voll verpackt und jeder so um die 2,50 Minimum. Kein Witz. Das waren echte Aufnahmen. Und dann..." Christophe zögert einen Augenblick.

"Ja, was dann?" fragt Erhardt

"... Dann zeigten sie Aufnahmen von den Schiffen, die diese Typen haben. Die brauchen die Flotte nicht. Die haben eine eigene. Die fliegen nur dorthin, wo echt Not ist, oder wo... das Imperium Interesse hat."

"Also, du glaubst unseren stillen Begleiter identifiziert zu haben?" Erhardt muss wieder schmunzeln.

"Ich... hatte von Anfang an so ein Gefühl. Ich hab die Auflösung noch einmal verbessert. Grösse kommt hin, die Form in etwa auch. Ist schon anders, aber die grundsätzliche Konstruktion... ja... ja. Das ist so ein Schiff. Vielleicht einfach ein ganz altes?"

Erhardt schüttelt nur den Kopf. Er lacht wieder. "Ähm... Christophe, ich hab auch schon Filme gesehen, die von der Kirche verbreitet werden. Glaub mir. Und ich muss dir leider sagen, dass es diesen ganzen Scheiss nicht gibt."

Christophe sieht ihn nur entgeistert an, als hätte er ihn gar nicht verstanden.

"Die heiligen Krieger. Den Imperator. Das Imperium. Alles Mist. Alles erfunden, alles Scheisse. Damit wollen die uns doch nur klein halten. Die Kirchen und die Handelkonzerne, die haben die Macht. Und die Teilen sie unter sich schön auf. Und um ihre Diktatur zu rechtfertigen, verbreiten sie den Scheiss vom heiligen Sternenreich. Mann, Christophe, du bist doch nicht erst seit gestern bei der Flotte. Hast du jemals irgendwo was heiliges angetroffen auf unseren Fahrten? Eher nicht? Ja? Dacht' ich mir. Ich nämlich auch nicht. Dafür hab ich gesehen, dass es überall gleich aussieht. Egal zu welcher verfluchten Welt du fliegst. Überall die gleichen Herrscher. Die gleichen Städte. Die gleichen Kirchen und die Konzerne. Unsere Scheissgouverneure sind doch nur Marionetten an deren Fäden. Und die Kirche fabriziert diese beschissenen Legenden, mit denen wir von Kindheit an vollgestopft werden. Indoktriniert, so dass wir am Ende tatsächlich glauben, dass unser Dasein irgendeinen Sinn hat ausser die Ärsche der Bonzen noch fetter zu machen. Sie dir doch mal Schröder an, die Sau, die auf Prishtine im Palast hockt. Kann der etwas? Tut der etwas, ausser in Limousinen rumkurven? Ein Gouverneur von des Imperiums Gnaden? Ha!"

Christophe hört ihm zu, regt sich aber nicht. Am Ende sagt er nur:

"Die Bilder, die ich gesehen habe, waren echt."

"Mann, die Kirche hat doch Mittel, um Fälschungen zu machen, die durch jede Prüfung kommen."

"Kann sein... aber spätestens seit drei Wochen weiss ich, dass diese Bilder echt waren. Dieses Schiff da draussen ist ein Schiff wie es uns dort gezeigt wurde."

Erhardt gibt es für den Moment auf. Christophe fährt fort:

"Gut, auch wenn alles so ist wie du sagst, Thomas, denk mal nach. Du weisst doch, was das Militär immer für Experimente macht. Es immer noch möglich, dass es solche Soldaten gibt. Gezüchtet, oder vielleicht sind es ja Roboter oder..."

Erhardt winkt ab. Er weiss, dass Christophe zumindest in soweit recht haben könnte. Ein Schiff liegt vor ihnen. Und dass das kein Gewöhnliches Schiff ist, sagt nicht nur seine Grösse, sondern auch die Tatsache, dass dessen Insassen offenbar signierte Mikroorganismen züchten.

Wieder spricht Christophe:

"Da ist noch etwas, Thomas."

"Ja, was?"

"Das Ding hat eine Signatur an der Aussenhülle. Aber ich kann die Auflösung nicht genau hinkriegen. Ich kann nicht sagen, was es ist."

"Lass mich raten. Es sieht etwa so aus wie eine Fliege?"

"Nein... eigentlich nicht."

Erhardt ist irgendwie erleichtert, als er das hört. "Wie sieht es dann aus?"

"Wie gesagt, ich seh's nicht genau. Wie drei Kreise. Einer oben, zwei unten."

Erhardt bemerkt ein Brennen an Daumen und Zeigefinger. Achtlos wirft er das fertiggerauchte Stäbchen weg. Er schüttelt sich kurz, macht sich gefasst, dann packt er Christophe am Arm und führt ihn zurück in Richtung Kommandokanzel.

"Hör zu, Christophe. Ich hab euch gleich allen was zu sagen. Aber dies hier sag bitte nicht weiter, ja?"

Christophe nickt.

"Gut. Also, diese Typen da im anderen Schiff, die haben die Erreger signiert. Mikroorganismen, jeder mit nem Schildchen dran, auf dem ne Fliege ist. Und was geschriebenes, dass man nicht lesen kann. Also wer auch immer die sind, sie sind total geisteskrank."

Sie treten zusammen durch die Tür. Inzwischen sind Dag und Hermann wieder wach und aktiv an ihren Konsolen.

"Er hat mehr von der Nachricht aufgeschlüsselt!" ruft Dag ihnen zu.

"Lies mir vor. Und du, Karl, hol Maciej. Schnell."

Dag beginnt: "Also, den grössten Teil am Anfang kann er immer noch nicht lesen. Aber dann, in der Mitte hat er übersetzt mit: "...uns das Zeichen geben..." Dann kommt wieder eine Weile nichts lesbares und dann: "....die Segnungen erhalten"."

"Ist das alles?"

"Bis jetzt ja. Er ist dran. In etwa 48 Stunden sollte er es haben."

Karl kommt mit Maciej herein.

"Also gut, alle mal herhören!" beginnt Erhardt. "Ihr seid alle bewaffnet für den Ernstfall. Obwohl das nichts nützt, wenn diese Typen uns entern. Aber eure Waffen müsst ihr jetzt gebrauchen. Wir müssen die Kranken töten. Alle. Sofort."

Einen Moment lang sehen ihn alle nur an.

"Das hat nichts mit Euthanasie zu tun, auch wenn das allein schon Grund genug wäre. Die Dinger..." er räuspert sich "... Entschuldigung, aber es sind wirklich nur noch Dinger, ihr werdet es selber sehen... ....diese Dinger werden gefährlich. Sie sterben nicht nur nicht, man kann sie auch gar nicht töten, ausser man schiesst ihnen das Hirn raus. Kein Witz. Dazu entwickeln sie eine höllische Kraft, auch wenn sie sich momentan noch kaum bewegen können. Glaubt mir. wir müssen sie töten."

Die anderen haben ihm betreten zugehört. Langsam beginnen sie, zustimmend zu nicken. Jeder hat Freunde unten, aber jeder hat die Kranken auch gesehen, als es schon ziemlich schlimm war. Sie nehmen ihre Waffen hervor und beginnen, sie zu überprüfen. Irgendwann signalisiert auch der letzte, dass er bereit ist.

"Hört zu. Wir gehen zuerst runter zu Thal. Dort trinkt jeder sein Quantum. Denn was vor uns liegt wird verdammt ekelhaft. Also los, gehen wir und bringen wir es hinter uns."

Erhardt setzt sich in Bewegung. Die anderen beginnen, ihm zu folgen. Sie sind jetzt alle still.
Da unterbricht sie Christophe.

"Halt! Wartet! Da!" Er deutet auf den Bildschirm seiner Konsole. "Seht euch das an. Die bewegen sich. Die kommen auf uns zu!"

Tatsächlich zeigt die verschwommene Aufnahme aus dem unvorhersagbaren Unraum, dass sich das andere Schiff zumindest bewegt.

"Verdammt!" ruft Erhardt. "Kommando zurück! Alle auf die Posten! Hermann! Gib Thal bescheid. Plan B!"

"Alles klar!" Hermann ist bereits an seinem Posten, sein einfaches Schrotgewehr umgehängt.

"Und ruf Arnauer, verdammt! Ich will möglichst alle hier zusammen haben. Christophe! Schick diesen Arschlöchern nochmal Botschaften. Frag sie, was sie wollen! Alle bekannten Sprachen! Alle Kanäle!"

"Schon geschehen!" ruft Christophe "Sie weisen die Botschaften ab!"

"Verteidigungswaffen klarmachen!" ruft Erhardt, dem schmerzlich bewusst ist, wie lächerlich diese gemessen am Gegner sind.

"Waffen klar. Volle Stärke." Das war Karl.

"Volle Stärke. Alles was wir haben! Feuer!"

"Keine Wirkung!"

Die Tür öffnet sich, Thal stürzt herein. "Alles klar, Käpt'n. Alles vermint, die Schleusen dicht. Wenn die reinwollen, werden sie was erleben!"

"Sie schiessen nicht zurück. Sie drehen bei. Sie wollen entern!" kommt es von Christophe.

"Wo ist Arnauer, verdammt?!"

"Konnte ihn nicht erreichen!" sagt Hermann.

Ein Rumpeln erschüttert das Schiff. Ein Dröhnen, dass durch die eisernen Organe hallt. Jeder hält sich auf seinem Posten. Jeder weiss, was geschehen ist. Das andere Schiff hat ihre Eingänge angezapft.

Minuten vergehen. Alle schweigen in ihrer Angst einher. Nur die Geräusche der Technik sind zu hören. Und das Atmen der Mannschaft.

Dann ein dumpfer Knall.

"Das waren die Minen. Es funktioniert!" flüstert Thal in die Stille hinein.

Weitere Explosionen.

"Ihre Einstiegsvorrichtungen wurden nicht beschädigt. Aber sie haben scheinbar Verluste. Ich zähle 14 tote Eindringlinge. Mehr kommen nach." meldet Christophe.

Erhardt schluckt leer. "Menschlich?"

"Scheint... ...scheint so, ja."

"Was heisst: Scheint so?" knurrt Karl aus seiner Ecke.

"Zu gross." sagt Christophe ruhig. Als würde er sich insgeheim über die Richtigkeit seiner Prognose freuen.

"Sie haben die Eingänge wieder abgedichtet. Sie machen die Schleusen auf."

"Waffen nehmen und entsichern!" sagt Erhardt und steht auf.

"Wir werden alle sterben, verdammt! Nehmen wir so viele mit wie wir können." Er öffnet noch einmal seine Ablage und holt die restlichen Stäbchen raus.

"Wer will, soll sich noch eine nehmen. Ich hab eh' die Schnauze voll!"

Die meisten zünden sich eins an. Die Hände zittern und umklammern ihre lächerlich einfachen Waffen mit Angst. Ein Schuss zerreisst plötzlich die angespannte Stille in der Kanzel.

"Das war Maciej." sagt Karl, deutet nach unten, wo Maciej liegt. sein Gehirn verteilt sich über den Fussboden.

"Sonst noch jemand?" fragt Erhardt und überlegt sich dabei kurz, ob es nicht wirklich das Beste wäre. Aber er bringt es nicht fertig. Er hat sich schon seit seiner Kindheit lieber verdreschen lassen, als jemals einen Schlag kampflos entgegenzunehmen. Es zwingt ihn förmlich hinaus.

"Also gut. Mir nach!" Er geht zur Tür hinaus. Der kümmerliche Mannschaftsrest folgt ihm.


IV



Wieder stinken ihm die klammen Gänge in ihrer Verlassenheit entgegen. Diesmal werden sie aber von Geräuschen erfüllt. Schritte. Weit entfernt, aber hörbar. Langsame Schritte. Schwere Schritte. Das ist keine Enteraktion im Adrenalinrausch. Die Eindringlinge scheinen sich geradezu lahmarschig zu bewegen.

Erhardt wählt einen Weg, der ihn nicht noch einmal an den Mannschaftsräumen vorbeiführt. Dieses Problem ist jetzt sowieso nicht mehr seines.

Auf Deck acht angekommen will er sich gerade zu den anderen umdrehen, um ihnen zu sagen, dass der Feind direkt hinter der nächsten Biegung ist, als es schon geschieht und so schnell geschehen ist, dass er eine Weile braucht, um seine neue Situation einzuordnen.



Er liegt am Boden, durchlöchert wie der Rest seiner Mannschaft. Er hat das Gefühl, in einem seichten Bach zu liegen, umströmt vom warmen Blut. Er blickt noch nach hinten. Alle tot. Da! Da bewegt sich Thal noch und sagt etwas unverständliches, bevor er erstarrt.
Erhardt dreht den Kopf, das einzige, das er noch bewegen kann, in die andere Richtung. Da steht der Feind.
Der Feind berührt mit seinem Kopf beinahe die Decke des Ganges. Tatsächlich ist es schwer zu sagen, ob er ein Mensch ist. Zu gross ist er allemal. Tatsächlich sieht er so aus, wie die heiligen Krieger aus den Geschichten. Mit grossen Schulterpanzern und einer offenbar mechanischen Rüstung. Aber die heiligen Krieger aus den Geschichten waren silbern und glänzend. Das Ding hier ist ein Rosthaufen. Die Rüstung scheint uralt zu sein. Grünlich verfärbt und mit Hieroglyphen bedeckt. Und tatsächlich trägt er ein Zeichen aus drei Kreisen und drei Pfeilen auf einem Schulterpanzer. Und sein Helm ist... eigenartig...

Andere Gestalten treten hinter die erste. Keine kleiner. Ansonsten sehen sie etwa gleich aus. Nicht ohne Faszination betrachtet der sterbende Erhardt sie und fragt sich, wie lange er noch zum sterben braucht.

Die eine Gestalt sagt etwas unverständliches zur ersten. Diese gibt eine Antwort. Aber die Antwort tönt nur grauenhaft. Wie ein Gurgeln aus einem Abflussrohr.

Mit Langsamkeit, quälender Langsamkeit fasst sich die erste Gestalt an den Verschluss seines Helmes und öffnet diesen. Wenn Erhardt zuvor geglaubt hat, dass der Gestank grauenhaft war, dann wird er jetzt eines besseren belehrt. Was hat dieser Typ getan? Hat er ein paar Jahrhunderte im Unraum verbracht und sich die ganze Zeit in die Rüstung geschissen? Es würgt Erhardt, aber er kotzt nur ein wenig Blut. Der Inhalt seines Magens hat sich schon anderweitig verflüchtigt.

Die Gestalt greift sich an den Helm und hebt diesen vom Kopf.

Erhardt hat einmal früher Bilder aus Kriegen gesehen. Bilder von Menschen, denen mit grossen Geschossen das Gesicht weggeschossen worden war. Tote Menschen. Die Gestalt vor ihm lebt. Aber sie hat kein Gesicht mehr. Dort, wo Nase und Mund sein sollten, klafft ein riesiges, eitriges Loch. Kleine Raupen und Würmer kriechen darin herum und fallen heraus auf den Boden. Über dem fehlenden Gesicht sind zwei Augen. Tote, schwarze Augen, wie von einem Haifisch. Sie starren Erhardt an, der längst in einem stummen, wahnsinnigen Gebet verloren gegangen ist und den Tod willkommen heisst, als er eintritt und ihn vom Anblick dieses Dings befreit.

Erhardt spürt nicht mehr, wie sein Kopf achtlos zertreten wird unter den schweren Stiefeln der höllischen Legion, die sich das Rohmaterial für ihre neuen Rekruten aus den Mannschaftsquartieren seines Schiffes holt.


ENDE



Urheberrecht: C.S. Brogle, 2005



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