Daß Tolkiens fiktionales Werk mit der Primärwelt nichts zu haben
wollte, konnte ich bis hierhin hoffentlich verdeutlichen. Tolkien setzte seine
Zweitschöpfungen in eigenem Recht in einen Raum, der keine Berührungspunkte
mit unserer realen Welt haben sollte. Natürlich konnte auch Tolkien nur
vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen und seiner Sozialisation in Sagen und
Mythen schreiben. Er konnte seine Geschichte nicht bezugslos komplett neu
schöpfen und mußte auf Erzählmotive anderer Menschen und Gesellschaften
zurückgreifen. Ich habe in diesem Zusammenhang den christlichen Schöpfungsmythos,
die Edda und den mitteleuropäischen Sagenkreis genannt. Aber die Welt
von Mittelerde ist ein eigenes Universum, das korrekt nur verstehen kann,
wer es als solches liest und nicht versucht, Parallelen zur realen Welt herzustellen.
Sein Zweck ist neben dem der Unterhaltung der, den Tolkien in "On Fairy-Stories"
als Initiierung der Phantasie, als Wiederbesinnung (Wiederherstellung) auf
das Staunen, als Trost und als Flucht gekennzeichnet hat.
Nun scheint es aber leider so, als ob die Kritiker des HdR Tolkien dies einfach
nicht glauben oder leiden mochten. Patrick Curry hat sich in dem sehr lesenswerten
Buch "Defending Middle Earth", das leider noch nicht auf Deutsch
übersetzt wurde, mit der Kritik an Tolkien beschäftigt. Dabei fällt
auf, daß die von Curry behandelte Kritik nicht die handwerkliche Qualität
der Erzählung zum Inhalt hat. Und ich muß hinzufügen, daß
auch mir keine Kritik bekannt ist, die Tolkien vorgeworfen hätte, schlecht
zu erzählen. Statt dessen wird Mittelerde wechselweise oder in Kombination
vorgeworfen, chauvinistisch ["paternalistic"], "reaktionär,
anti-intellektuell, rassistisch, faschistisch und [...] insgesamt irrelevant"
zu sein (Curry 1997, S. 16). Diese Kritik entspringt nach Curry einem Reduktionismus,
der die Integrität der Werke Tolkiens dadurch verletzt, daß er
die Inhalte nicht als einfach für sich stehend akzeptiert, sondern alle
Handlungen und Geschehnisse so interpretiert als stünden sie allegorisch
für etwas aus unserer Primärwelt. Um es gleich vorweg zu nehmen,
Curry ist der Ansicht, daß all diese Kritikpunkte vollkommen unangebracht
sind - und ich denke, daß er damit Recht hat.
Natürlich erscheint im HdR das als "gut" was für Tolkien
auch in der primären Welt liebenswert ist: das bäuerliche Leben
im Auenland, die Schönheit, die die Elben schon durch ihre Sprache verkörpern
und das immer wiederkehrende Motiv der Bäume. Und es erscheint das als
"Böse", was Tolkien auch im realen Leben als bedrohlich empfand:
die Ödnis Mordors als Gegensatz zur gesunden Natur und das Maschinenmotiv
im geschändeten Auenland. Das ändert aber nichts daran, daß
es sich bei Mittelerde um eine Schöpfung handelt, die der Primärwelt
eigenständig gegenüber steht. Curry argumentiert in diese Richtung,
wenn er sagt, daß der HdR ein eigenes Leben habe. Wenn Curry dann weiter
schreibt, daß dieses eigene Leben sogar darüber hinaus gehe, was
Tolkien mit den Geschichten erzählen wollte, so trifft er damit den Punkt,
daß Fairy-Stories Phantasie auf Seiten der Leser und Hörer verlangen
und so zu einer je individuellen Aneignung führen. Diese individuelle
Lesart guter Fairy-Stories erhebt sie nun ebenfalls über verallgemeinernde
allegorische Deutungsbemühungen, da ein jeder Rezipient sich die Geschichten
selbst aneignet.
Ich möchte zur Illustration der falsch verstandenen Tolkienexegese ein
Beispiel für eine wohlwollende, aber völlig danebengehende Interpretation
übernehmen, das Curry anbringt. Jack Zipes schreibt in "Breaking
the magic spell" (zit. n. Curry, 17), daß der kleine Hobbit eine
Allianz zwischen der unteren Mittelklasse - Bilbo Beutlin - und der Arbeiterschaft
- den Zwergen um Thorin Eichenschild - repräsentiere, die sich zusammengefunden
habe, um einen parasitären kapitalistischen Ausbeuter zu stürzen
- den Drachen. Die Interpretation sei zwar amüsant, so Curry, aber sage
doch deutlich mehr über den Marxismus aus, als über den kleinen
Hobbit.
Aber erlaubt die individuelle Sichtweise nicht gerade die mutwillige Interpretation
des Werkes in ganz eindeutige Richtungen? Kann man Tolkien also mit gewissem
Recht als Chauvinisten und Rassisten sehen? Vielleicht. Aber dann müßte
die richtungweisende Interpetration schon sehr überzeugend sein - und
das ist sie bis jetzt nicht! Sehen wir nun einmal nach, wie man die wesentlichen
Kritikpunkte an Tolkiens Mittelerde auch (!) behandeln kann.
1. Rassismus
Der Vorwurf des Rassismus bezieht sich darauf, daß einerseits die Helden
des HdR von typisch europäischer Erscheinung sind, während andererseits
die bösen Völker aus dem Osten und Süden kommen, klein und
von dunkler Hautfarbe sind und teilweise geschlitzte Augen aufweisen. Aber
so kann und muß man einwenden: 1. Das Böse ist von ursprünglich
engelhafter Herkunft. 2. Sauron, Saruman und der Herr der Nazgul sind ebenfalls
Weiße. 3. Hobbits weisen keinerlei als wünschenswert arisch zu
bezeichnende Merkmale auf. 4. Das Böse befällt auch die blonden,
hochgewachsenen Recken von Rohan und Gondor. 5. Daß der Ring überhaupt
vernichtet werden kann, hängt von der Zusammenarbeit und Freundschaft
der gemischtrassigen Freundesgruppe von Menschen, Elben, Hobbits und Zwergen
ab. Tolkien selbst hat den Vorwurf, daß der HdR rassistisch sei, entschieden
abgelehnt und die zentrale Rolle der so europäisch wirkenden Länder,
in denen die Handlung spielt, damit begründet, daß natürlich
die Phantasien, die er erzähle sich nur aus dem speisen könnten,
was er kenne und er sei nun einmal Europäer also müsse auch der
Westen Mittelerdes europäisch wirken.
2. Faschismus
Der HdR ist immer wieder mit Wagners "Ring der Nibelungen" verglichen
worden. Tolkien mochte Wagner nicht und er mochte explizit die Götterdämmerung
nicht und einmal soll er aufgebracht gesagt haben: "Beide Ringe sind
rund - und damit enden die Gemeinsamkeiten!" Das Bild des titanischen
Kampfes dient den entsprechenden Kritikern als Nachweis für faschistische
Tendenzen. Und sonst? Der HdR feiere aristokratische und feudalistische Ideale
und stütze autoritäre Handlungsweisen, heißt es. In der Tat
ist es so, daß Teile der Handlung durch starke und adlige Charaktere
vorangetrieben werden, bspw. Aragorn, König Theoden und Boromir. Aber
die Entscheidung bringen gerade die kleinen und sich selbst unsicheren Gestalten
wie Bilbo, Frodo, Sam und sogar Gollum. Demgegenüber spielt ein allerdings
faschistisch anmutender Macher wie Boromir durch seinen Autoritarismus und
seinen Glauben an die eigene aristokratische Überlegenheit dem
Bösen in die Hände. Die wesentliche politische Aussage des HdR,
so man denn unbedingt eine hineinlesen muß ist doch die, daß autokratische
Machtvollkommenheit in das Verderben führt. Es wäre für Elrond,
Galadriel und Gandalf doch viel einfacher gewesen, den Ring und damit alle
Macht zu nehmen. Aber gerade dieses Ding - die absolute Macht - hätte
doch auch sie korrumpiert. Ich weiß nicht wie man hier auf Faschismus
kommen kann!
Zur Entkräftung des Faschismusvorwurfs können wir übrigens
auch Tolkiens eigene ("liberale" - so Pearce 1998, S. 133) politische
Überzeugung anführen. Eine seiner wenigen Einlassungen zu seiner
politischen Überzeugung findet sich in einem seiner Briefe und lautet:
"My political opinions lean more and more to Anarchy (philosophically
understood, meaning abolition of control not whiskered men with bombs) - or
to 'unconstitutional' monarchy" (Carter 1981, S. 63). Diese Einstellung
lässt sich nicht mit Faschismus in Übereinstimmung bringen.
3. Chauvinismus - Paternalismus
Die Handlung des HdR wird zu nahezu hundert Prozent von Männern getragen
- daß Eowyn den Herrn der Nazgul tötet, ist dabei zu vernachlässigen,
dient sie doch nur als Werkzeug der mystischen Prophezeiung, daß kein
Mann dies fertigbringe (wäre ein Ent glaubhaft zur Hand gewesen, hätte
der auch gereicht - so könnte man meinen). Dem ist wohl so. Aber ist
das dann Chauvinismus? Vielleicht - wenn man es so liest, daß Tolkien
durch die einseitig männliche Besetzungsliste Frauen die
Chance nimmt, auf die Geschehnisse, die schließlich alle Bewohner Mittelerdes
betreffen, gleichberechtigt Einfluß zu nehmen. Daß die klassische
Frauenrolle durch die Leidenspose Arwens, die nur passiv darauf warten kann,
das Aragorn wiederkommt, unterstützt wird, macht es auch nicht leichter.
Wenn man dies also so lesen will - bitte. Was aber meiner Meinung nach nicht
geht, ist, der Handlung Sympathie für Paternalismus und diesem folgend
Chauvinismus vorzuwerfen. Paternalismus definiert sich als autoritäre
Bevormundung anderer und Chauvinismus ist eine direkte Steigerung davon. Für
diesen Vorwurf gilt aber das Gleiche, was ich soeben über den faschismusimmanenten
Autoritarismus gesagt habe: Wo dieser im HdR vorkommt, wird er als falsch
gebrandmarkt. Ein weiteres Beispiel dafür ist nun doch Eowyn. Sie handelt
direkt gegen den Befehl Theodens, den Heerzug nicht zu begleiten und tötet
dann den Nazgul. Hätte sie das nicht getan, hätte dieser Gandalf
am Stadttor von Minas Tirith wohl getötet. Minas Tirith wäre doch
gefallen und das letzte Heer wäre niemals vor die Tore Mordors gezogen.
Dann aber wäre das Auge Saurons nicht abgelenkt gewesen und er hätte
die Ausstrahlung des sich nähernden Rings wohl bemerkt ... Will man aus
der Handlung des HdR eine Lektion ziehen, so kann die allenfalls lauten, daß
alles ineinander greift und niemand sich das Recht anmaßen kann, für
andere zu entscheiden, was gut und richtig ist. Insofern greift der Chauvinismusvorwurf
zu kurz. Und zwar auch dann, wenn es um Chauvinismus von Männern gegenüber
Frauen geht, denn dessen Kern ist ebenfalls die Bevormundung und Übervorteilung.
Sympathie für Bevormundung gibt der HdR aber nicht her.
4. Flach- und Dummheit
Ein Vorwurf der Tolkien, aber wohl nicht nur ihm, sondern dem gesamten Genre
der phantastischen Literatur immer wieder gemacht wird, ist der, flach und
kindisch zu sein. Also das zu sein, was man gerne als Schundliteratur bezeichnet.
Diese Kritik vergißt natürlich als erstes, daß die Epen Homers,
die Heldendichtung Ariosts und auch der Mittsommernachtstraum Shakespeares
- obwohl unstreitig als hohe Literatur angesehen - nicht gar so anders sind.
Sie sind nur älter und haben schon
Generationen inspiriert. Diese Werke sind über Jahrhunderte und Jahrtausende
bis auf uns gekommen, weil sie irgend etwas gehabt haben, was die Menschen
dazu veranlaßt hat, sie zu bewahren. Vielleicht sollte man auch die
zeitgenössische phantastische Literatur dem Urteil der Generationen übergeben.
Denn natürlich gibt es grottenschlechte Machwerke. Ich bin aber davon
überzeugt, daß die sich auch ganz ohne kritisches Zutun des Bildungsbürgertums
und erst recht ohne Bücherverbrennungen erledigen werden.
Oder ist das Element, an dem sich die Kritiker stören, daß der
Unwissenschaftlichkeit, der Weltferne und der Umstand, das wir nichts Nützliches
daraus lernen? In "Effi Briest" lernen wir, was Intoleranz und echter
Chauvinismus anzurichten vermögen. Der "Faust" zeichnet ein
lehrstückhaftes Bild von menschlichem Streben, menschlicher Hybris und
vom Scheitern. Und der HdR? Zugegebenermaßen lehrt er uns kaum etwas
- außer Zuzuhören und (mit) zu schöpfen. Er will aber
auch gar nichts lehren, wie die Gegenwehr Tolkiens gegen Allegorien zeigt.
Folgt daraus Kritikwürdigkeit? Vielleicht weil der HdR unsere Zeit verschwendet,
da er uns nichts lehrt? Ich denke kaum. Denn zuhören zu lernen und sich
der möglichen Schaffenskraft der eigenen Phantasie zu öffnen ist
natürlich ein Lernerfolg. Ganz davon abgesehen, daß ein Lernerfolg
schon ist, der Sprache und Ausdrucksweise Tolkiens zu lauschen und so die
Möglichkeiten von Sprache und Kommunikation im Bereich des Undinglichen
zu erfahren.
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