von Inge Schemm & Petra Krippner Spinnen sind eine sehr alte Tierart. Die ersten Landtiere waren Spinnentiere,
die den Skorpionen glichen. Es gibt ungefähr 60.000 Arten, eine enorme Anzahl,
wenn man sie mit den Säugetieren vergleicht, von denen wir etwa 4.500 kennen.
Ihr wissenschaftlicher Name ist Arachnida, abgeleitet von "Arachne",
einer lydischen Weberin aus der griechischen Mythologie, die mit ihrer Kunst selbst
Athene übertreffen wollte. Bei einem Wettstreit mit der Göttin wob die
hochmütige Arachne das Liebesleben der Bewohner des Olymps in ihren Teppich
und wurde deshalb von Athene mit der Lade des Webstuhls geschlagen. Arachne erkannte
ihre Vermessenheit und erhängte sich. Die mitleidige Göttin aber verwandelte
den Strick in einen Spinnfaden und Arachne in eine Webspinne. Daher das geflügelte
Wort vom "Leben am seidenen Faden".
"Igitt, eine Spinne!" ist der Ausruf so mancher entsetzter Hausfrau,
wenn sie beim Saubermachen auf das Kunstwerk eines unerwünschten Gastes trifft,
der ihre hausfraulichen Fähigkeiten schwer in Frage stellt. Schließlich
bedeuten Spinnweben immer die Abwesenheit eines nötigen Staubwedels und damit
die Abwesenheit von Sauberkeit. Bei der Entfernung dieser "Scheußlichkeit"
hofft die geplagte Hausfrau zudem, die Bewohnerin möge doch bitte nicht zu
Hause sein und übersieht dabei, welch wunderbares Gebilde sie auf ihre Schaufel
kehrt.
Es ist schon erstaunlich, wie unsere Gefühlswelt funktioniert. Furcht und
Ekel (Arachnophobie) löst der Anblick einer Spinne bei vielen Menschen aus,
wahrscheinlich mehr bei Frauen als bei Männern ("Männer geben es
vielleicht nicht so gerne zu"). Kommt der Abscheu von ihren starren Augen,
ihren langen haarigen Beinen oder ihrer huschenden Fortbewegung? Oder wissen wir
in unserem Unterbewusstsein, dass sie uns zu Urzeiten schaden konnte? Spinnen,
die in unseren gemäßigten Breiten zu Hause sind, haben nur wenige wirkliche
Freunde. Exoten, wie zum Beispiel Vogelspinnen, sind schon eher bei Terrarienliebhabern
als Haustiere zu finden. Wir Menschen streicheln gerne Hunde, Katzen oder Pferde
und sind entzückt über Säugetiere und Vögel, die uns in der
freien Natur begegnen. Unseren Nutztieren gegenüber sind wir relativ leidenschaftslos
eingestellt. Sie dienen uns ausschließlich zur Ernährung, auch wenn
dieser Umstand die oft damit einhergehende unpflegliche Behandlung nicht entschuldigt.
Exotische Tiere bewundern wir im Urlaub oder bestaunen sie im Zoo. Für alle
diese Geschöpfe empfinden wir Respekt, Bewunderung oder gar Liebe. Spinnen
jedoch suchen wir nicht freiwillig in unserer näheren Umgebung.
Dass Kleinkinder Spinnen völlig wertfrei begegnen, sie neugierig betrachten
und untersuchen, begeistert auf sich herumkrabbeln lassen, ist interessant. Wächst
ihr Bewusstsein, registrieren sie die entsetzten Reaktionen ihrer Vorbilder, übernehmen
das unvermeidliche "Ihh" und beginnen sich zu ekeln. Eine patschige
Kinderhand, auf der eine schwarze, behaarte Spinne krabbelt, hat seltsamerweise
viel damit zu tun, dass die Natur es so eingerichtet hat, dass wir diminutiv,
also verniedlichend, auf ein bestimmtes Schema reagieren. Weiche Haut oder Fell,
große Kulleraugen wecken in uns mütterliche Instinkte. Würden
wir spinnenähnliche Wesen zur Welt bringen, hätten wir sicher ein anderes
"Niedlichkeitsschema".
Und trotzdem überkommen uns Schuldgefühle, wenigstens die meisten von
uns, wenn wir eine Spinne töten oder sie, mit Gänsehaut im Nacken, aus
dem Haus werfen. Schließlich wissen wir genau, wie nützlich und vollkommen
ungefährlich sie ist. Ihr Gift benützt sie nur zur Lähmung und
zum Verdauen ihrer Beute, die ausschließlich aus lästigen Insekten
besteht, die von uns aber mehr toleriert werden, als eine Spinne. Manche Autoren
behaupten, der Biss einer Kreuzspinne könne die menschliche Haut nicht verletzen,
andere wollen beobachtet haben, dass sich eine Bissstelle leicht rötet und
ein etwa fünfzehn Minuten langer Juckreiz entsteht. Das Gift unserer lieben
und fleißigen Bienen ist um ein Vielfaches gefährlicher als das der
meisten Spinnen.
In Afrika, Nord- und Südamerika müssen sich die Spinnen gegen eine Vielzahl
natürlicher Feinde zur Wehr setzen, konkurrieren untereinander sehr viel
stärker um das Nahrungsangebot und haben aus diesem Grund zum Teil auch starke
Gifte entwickelt, die mitunter dem Menschen gefährlich werden können.
Allerdings gehört der Mensch nie zum "Beuteschema" einer Spinne,
die Begegnungen mit ihm sind rein zufälliger, wenn auch für den Menschen,
manchmal höchst unangenehmer Natur. In den fünfziger Jahren schrieb
ein Spinnenforscher: "Noch heute begegnen wir in der Tagespresse regelmäßig
Berichten über Vogelspinnen, die in finsteren Kellern hausen, sich an Fäden
herablassen, Menschen heimtückisch ins Genick springen, ihnen den Lebensfaden
durchbeißen und ihnen das Blut aussaugen." Dieser Unsinn, meist als
Tatsachenbericht angepriesen, schürt auch heute noch die Angst vor der angeblich
berechnenden Grausamkeit gewisser Spinnen, wie der Bananenspinnen.
Das bekannte Phänomen der Bananenspinnen bezieht sich auf mehrere Spinnenarten,
die tatsächlich in Bananenstauden, Südfrüchten und Holz aus Übersee
nach Europa gelangen können, darunter auch hochgiftige. Es ist nirgends dokumentiert,
wie viele Bisse oder gar Todesfälle vorgekommen sind. Durch Kühlung
und chemische Haltbarmachung der Früchte werden die meisten Tiere getötet,
da hätte auch "Kankra" keine Chance zu überleben. Die Mediziner
halten aber dennoch Seren bereit, die mehrere Giftarten abdecken.
"Wie von der Tarantel gestochen" sagt man im Volksmund, wenn jemand
auf einen plötzlichen Schmerz mit hektischen Bewegungen reagiert. Im 17.
und 18. Jahrhundert zogen Leute durch Italien, die angeblich von der Tarantel
gebissen waren und erregten Mitleid bei den Einwohnern. Sie verbreiteten Angst
und Schrecken und hofften auf diese Weise Verpflegung und Unterkunft zu bekommen.
Heilung war nur dadurch zu erreichen, in dem man die Kranken so lange zur Musik
tanzen ließ, bis sie erschöpft zusammenbrachen. Die heilende Musik
wird heute noch in südeuropäischen Ländern als Tarantella gespielt.
Spinnen eignen sich also besonders gut, um uns ein angenehmes Gruseln zu bescheren.
Was liegt da näher, als eine eklige, furchterregende Macht auf den Plan zu
rufen, die alle Urängste auf einmal verkörpert, ein grässliches,
überdimensionales verschlagenes Monster, mit der Fähigkeit, Netze als
Fallen zu spinnen. Ein riesiges Eichhörnchen dagegen (wie lächerlich)
oder aber auch ein Tiger oder Rhinozeros hätte diese Wirkung niemals erzielt.
Filme wie "Tarantula" (1956) oder "Arachnophobia" sind gute
Beispiele dafür. Beide Filme handeln von mutierten Kreaturen, absolut tödlich
für Mensch und Tier.
J.R.R. Tolkien konnte Spinnen nicht besonders gut leiden, da er angeblich einmal
von einer Tarantel gebissen worden ist. Die Spinnen sind bei ihm meist riesig
und machtvoll. Mondspinnen jagen in "Roverandom" Mondstrahlen und fressen
alles, was sie erwischen.
Im "Silmarillion" hauste "Ungoliant" in Mittelerde des ersten
Zeitalters, vor der sich sogar Melkor fürchtete. Sie zerstörte die zwei
Bäume von Valinor und verschlang das Licht der Bäume, um daraus ihre
dunklen Netze zu weben. Melkor vertrieb sie mit Hilfe der Balrogs und sie floh
nach Süden, wo sie sich aus Hunger selbst auffraß.
"Kankra" (die Große) ist eine Nachfahrin von Ungoliant und auch
eine Lichtfresserin. Im dritten Zeitalter wohnte sie in Cirith Ungol, konnte den
Geist ihrer Opfer beeinflussen und sie verstand die Sprache der Menschen .Tausende
Jahre zuvor kämpfte sie gegen Beren bei dessen Flucht aus Dorthonion. Dem
Licht aus Galadriels Phiole konnte sie jedoch nichts entgegen setzen und musste
Sam entkommen lassen. Es ist nicht bekannt, was später aus ihr geworden ist.
Ihr Name stammt übrigens von "Kanker", dem altdeutschen Begriff
für "Spinne". Im englischen Original heißt sie "Shelob",
was eine Kombination aus "She" und "Lob" darstellt, letzteres
auch hier eine veraltete Bezeichnung für Spinnen.
Die Spinnen, mit denen es Bilbo und die Zwerge auf ihrer Reise zum Einsamen Berg
(Erebor) in "Der kleine Hobbit" zu tun bekamen, waren Kinder von Kankra
und bei weitem nicht mehr so groß wie sie. Mit List (der Eine Ring) und
Mut konnte Bilbo die Spinnen von den Zwergen ablenken und sie in die Flucht schlagen.
Dabei mussten sich die Armen auch noch Spottlieder anhören, die sie völlig
aus der Fassung brachten, wie:
"Alte, fette Spinne, spinn dich ein im Baum
alte, fette Spinne, siehst mich nicht im Traum!
Atterkopp! Atterkopp!
Hast du keinen Faden, fällst du aus dem Baum!
Alte, faule Tratsche, schiel nicht um den Ast,
alte, faule Tratsche, hätt'st du mich gefasst!
Atterkopp! Atterkopp!
Willst du mich erwischen? Fällst ja schon vom Ast!"
Jetzt kann man aber wirklich auf Peter Jacksons Kankra gespannt sein!
Autoren: Inge Schemm & Petra Krippner
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