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VOLKER WÖLL - "HÄRESIE"

Die Stimme des Ekklesiarchen schwoll immer mehr an. Bald würde er den Höhepunkt des „Opus Regis“ erreicht haben, dann würde die volle wohltönende Stimme des alten Mannes die ganze graudunstige Kuppel der großen Kathedrale von Vanitas ausfüllen. Nur Ekklesiarch Probas schaffte es im ganzen höhlenartigen Dom gehört zu werden. Dabei war der eher schmächtige alte Mann mit dem Kranz grauer Haare um den rasierten Kopf im riesigen Choraum kaum zu sehen. Der Schall seiner Worte brach sich an den hundert Metern hohen grauen Mauern mit ihren riesigen gotischen Fenstern und brandete zurück über die Menge, die sich versammelt hatte um ihn zu hören und Ihn auf Erden zu feiern.
Probus war ein Meister der Dramaturgie. Gerde als er den Gipfel der heiligen Anrufung ereichte und seine Stimme sich schier überschlug, brach das Licht der aufgehenden Sonne durch die haushohen Bundglasfenster und badete die wartenden Massen in heiliges, warmes Licht.
Merkius spürte religiöse Verzückung in sich aufsteigen. Probus war ein heiliger Mann: Seine Worte brachten einen näher an den Imperator. In Momenten wie diesem konnte man die Macht und die Gegenwart von Ihm auf Erden spüren. Minutenlang schwebten der junge Ministrant und die sprachlose Menge in transzendentaler Erhabenheit. Alls sich seine Sinne wieder klärten war der Gottesdienst fast beendet. Merkius musste sich beeilen, seinen Platz in der Auszugsprozession ein zu nehmen.
Busfertig warf er sich vor dem kleinen goldenen Reliquienschrein, welcher auf einem gesalbten Podest vor ihm stand, auf den Boden. Genau acht Herzschläge lang berührte seine Stirn die kalten Marmorplatten, bevor er sich mit gesenktem Haupt erhob um das heilige Gefäß vorsichtig auf zu nehmen.
Er reihte sich an dreiundsechzigster Position in die Prozession ein, denn das Artefakt, welches er trug, war das dreiundsechzigste der Achtundachtzig Heiligen Reliquien des Schreines von Vanitas. Während er langsam und gemessenen Schrittes das gewaltige Hauptschiff der Kathedrale durchquerte wanderte sein Blick wie unzählige Male zuvor über die Intarsien der goldenen Lade. Sie zeigten die Krieger des Imperators in ihren Vollrüstungen, wie sie die Feinde der Menschheit niederwarfen. Über der Szene, auf dem schweren Deckel des Gefäßes, thronten zwei Vögel, die Merkius noch nie gesehen hatte, denn auf Vanitas gab es solche Kreaturen nicht, von denen er aber wusste, dass es Raben waren. Zu gerne hätte der Ministrant das Wappentier jener Krieger, die vor unzähligen Äonen seinen Heimatplaneten aus der Dunkelheit befreiten, einmal lebend gesehen. Oft, wenn auf seiner schmalen Pritsche in der Kammer des Artefaktes lag und nicht schlafen konnte, malte er sich die majestätische Erscheinung dieser Vögel aus. Wie wunderbar musste es auf Terra sein, im Garten von Ihm auf Erden.
Als sie den riesigen Dom verlassen hatten, brachten die Ministranten ihre Artefakte schweigend in die jeweiligen Kammern. Es war ihnen bei Todesstrafe verboten, ihren Körper mit Worten zu entweihen, während sie die heiligen Reliquien trugen. Eigentlich sollten sie auch nicht denken, aber das war etwas, was Merkius unmöglich war. Also nutzte er die Zeit die er brauchte, den Schrein zu salben und auf seinem Sockel ab zu stellen, die Kabel und Schläuche in der katechistischen Reihenfolge an zu bringen und schließlich die nötigen Psalme auf zu sagen, um über die Reliquie selbst nach zu denken.
So konnten seine Gedanken wenigstens nicht unkeusch sein. Er bedauerte, dass er so wenig über den Gegenstand wusste, dem er sein Leben gewidmet hatte. Seid seiner Aufnahme in den Schrein der Achtundachtzig Heiligen Reliquien vor wenigen Jahren schlief und lebte er in der kleinen Kammer des Artefaktes und würde voraussichtlich auch hier sterben. Merkius war sich der großen Ehre und Verantwortung die auf ihm lagen bewusst und er dankte dem Imperator auf Knien, das sein Leben mit diesem höheren Sinn gesegnet war, jedoch hätte er gerne gewusst, was sich genau in der goldenen Lade befand.
Alles was er wusste war, das es sich um ein Überbleibsel eines jener gewaltigen Krieger handelte, die vor undenkbarer Zeit den Planeten für den Imperator eroberten und ihn aus seiner Dunkelheit in das strahlende Licht der Zivilisation zurück geführt hatten. In den fünf heiligen Büchern musste mehr über das Artefakt stehen, nur gab es unglücklicher weise niemanden mehr, der sie alle lesen konnte. Die fünf Bücher waren der größte Schatz, den Vanitas besaß. In ihnen war die Geschichte seid der Besiedelung des Planeten aufgeschrieben und im letzten der Bücher schrieb Ekklesiarch Probus noch heute. Sie waren die ersten und ältesten der Artefakte. Das erste Buch war so alt, das es noch aus der Zeit vor der Befreiung und schließlich auch über den Kampf selbst berichtete, allerdings war es auch in der fremden und archaischen Sprache jener dunklen Periode abgefasst. Dennoch gab es bis vor wenigen Jahren einen Menschen, der diese Sprache kannte und die Schrift lesen konnte: Der Hüter des Ersten Buches hatte sein Geheimnis von Generation zu Generation an seinen Nachfolger weiter gegeben und obwohl er nie in dem Folianten lesen durfte hätte er es gekonnt.
In dem Jahr bevor Merkius der Bruderschaft der Achtundachtzig Heiligen Reliquien beitrat war der alte Hüter des Ersten Buches dem Wahnsinn verfallen, ohne sein Geheimnis weiter zu geben. Mann erzählte sich er habe heimlich in den Seiten geblättert und was er dort gelesen habe, habe ihm den Verstand geraubt. Der alte Mann war aus der Abtei geflohen und wilde Prophezeiungen ausstoßend über Vanitas gezogen. Merkius selbst war ihm einmal begegnet und diese Erfahrung war so unheimlich gewesen, dass sie sich für immer in seinem Gedächtnis eingebrannt hatte. Mit wahnsinnigen Augen hatte der gefallene Mönch auf dem Marktplatz seines Heimatortes gestanden und mit schriller Stimme geschrieen:
„Seht die Schlange die sechs Augen hat! Ihrer drei Zungen, aber nur einen Leib! Sie war der Bruder des Raben und gemeinsam legten sie Feuer an die Fundamente unserer Väter! Aus der Asche des Feuers entstand eine neue Welt, eine Welt für Ihn auf Erden. Aber er wurde verraten! Bruder kämpfte gegen Bruder! Die Schlange überfiel den Raben, denn ihr schrecklicher Herr wollte es so! Fürchtet die Schlange! Noch immer ist ihr Erbe bei uns!“
Unwillkürlich schüttelte sich Merkius als er an jenen Tag zurück dachte. Der Vorfall hatte sich weit herum gesprochen, soweit dass nach einiger Zeit ein Inquisitor aus dem Segmentum gekommen war um für Ordnung zu sorgen. Der verrückte Alte, der frühere Abt und Ekklesiarch und einige Andere waren auf nimmer Wiedersehen verschwunden.
Merkius verdrängte die düstere Erinnerung. Es war spät geworden, Zeit für das Abendessen. Die Mahlzeiten, waren die einzige Zeit, die die Ministranten zusammen verbrachten und Merkius freute sich darauf die anderen zu sehen. In der Halle der Achtundachtzig setzte er sich an seinen Tisch und bald darauf erschien auch sein Freund Luktius. Sie hatten zusammen die Akolythenschule besucht und waren dann gemeinsam in die Bruderschaft aufgenommen worden. Luktius war der neue Hüter des Ersten Buches.
Der junge Mann mit dem roten runden Gesicht schenkte Merkius ein freundliches Lächeln als er sich zu ihm setzte. Eine Weile aßen sie schweigend, aber Merkius merkte, das sein Freund über irgendetwas aufgeregt war. Schließlich beugte sich Luktius zu ihm herüber und flüsterte:
„Hast du schon gehört? Ein Schiff aus dem Segmentum ist heute Morgen gelandet!“
Natürlich hatte Merkius davon noch nichts gehört, denn schließlich war es ihm und allen angehörigen der Bruderschaft verboten die Abtei zu verlassen.
„Nein.“, antworte Merkius, „Aber woher weißt du…“ der junge Ministrant unterbrach sich und starrte seinen Mitbruder aus schreckensgeweiteten Augen an. „Du hast dich wieder mit diesem Weib getroffen!“ presste er vorwurfsvoll hervor. Luktius war ein Gefallener. Vor einigen Wochen hatte er sich auf eine unkeusche Beziehung zu einer Gottesdienstbesucherin eingelassen! Eigentlich hätte Merkius ihn sofort melden müssen, aber dann hätte man Luktius vermutlich hingerichtet und er hätte seinen einzigen Freund verloren.
„Psst!“ machte der Andere und schaute sich hektisch um, aber niemand hatte sie gehört. „Ja, ja ich habe mich mit ihr getroffen.“ gab er schließlich zu und hatte genug Anstand beschämt drein zu blicken „Aber viel wichtiger ist, was sie mir gesagt hat. Auf dem Schiff war ein Krieger des Adeptus Astrates! Und nun rate wo er hin will?“
Merkius war noch immer geschockt von der Schandtat seines Freundes und so begriff er nicht gleich was der wollte. Regungslos starrte er in Luktius´ erwartungsvolles Gesicht.
„Er will zu und, Merkius, zu den Artefakten. Wir werden einen Space Marine sehen!“
„Du meinst…ein echter Krieger des Imperators? Bei uns?“ endlich ließ er sich von er Begeisterung seines Freundes anstecken. Aller Frevel war vergessen. War das aufregend!
Wie zwei Schuljungen tuschelnd saßen sie zusammen, bis es Zeit war in die Kammern zurück zu kehren.

Merkius hatte sich gerade den Kopf rasiert um die rituellen Narben die ihn schmückten hervor zu heben, wie es Pflicht war in der Abtei. Er machte sich für das Abendritual bereit und wollte dann eigentlich zu Bett. Kaum hatte er jedoch seine einzige Kutte wieder an gezogen, als sich die Tür seiner Kammer schwungvoll öffnete.
Der junge Ministrant fuhr erschrocken herum. Das war ein Sakrileg! Niemand durfte die Kammern der Artefakte betreten ohne vom Hüter eingelassen zu werden. Und der Hüter dieser Kammer war er selbst: Merkius.
„Was soll …“ setzte er an, aber die Gestalt, die in den Raum trat lies ihn verstummen. Der Mann trug keine Rüstung oder Uniform, aber Merkius wusste sofort, das dies der Krieger des Adeptus sein musste. Der Mann musste den Kopf einziehen um unter dem mehr als zwei Meter hohen Türsturz hindurch zu kommen, seine Brust war breit wie ein Fass und auch wenn sein Körper unter einer weiten schwarzen Robe verborgen war konnte man die ungeheure Kraft spüren, die von ihm ausging. Unter der weiten Kapuze der Robe war ein fein geschnittenes aber entsetzlich blasses Gesicht zu sehen. Auf der Stirn des Eindringlings prangten acht goldene Nieten. Merkius starrte ihn mit offenem Mund an.
„Ist das die Kammer des dreiundsechzigsten Artefaktes?“ fragte der Marine mit harter Stimme, kalt wie Eis.
Endlich fand Merkius die Sprache wieder. Er bewunderte die Krieger des Imperators, aber das Auftreten des Mannes verletzte die Etikette und auch ein wenig seinen Stolz.
„Ja, das ist sie, aber ihr könnt nicht einfach…“
Die kalten Augen des Anderen fixierten Merkius.
„Was kann ich nicht? Euer Abt hat mir erlaubt alle Artefakte zu betrachten!“
„Ja, natürlich.“ gab der Ministrant eingeschüchtert klein bei, „Da ist es.“ Er deutete auf den Sockel auf dem der goldene Reliquienschrein ruhte.
Ohne weiter auf Merkius zu achten schritt der Marine auf das Artefakt zu. Der junge Mönch beeilte sich schritt zu halten. Einen Augenblick schien der Krieger die Lade eingehend zu betrachten, dann fragte er:
„Wie kann man sie öffnen?“
Merkius Augen weiteten sich vor Entsetzen. Er lief rot an und hätte sich fasst vor Schreck an seiner eigenen Zunge verschluckt.
„Sie…Sie öffnen?“ stotterte er, „Herr, das ist völlig unmöglich!“
Doch der Marine hatte ihn falsch verstanden. „Hm, dann werde ich die ganze Lade mitnehmen müssen.“ Schon griff er mit seinen starken Armen nach der goldenen Kiste.
„Nein!“ aufschreiend warf sich Merkius über den Schrein. „Ihr dürft das Artefakt nicht nehmen! Das ist Raub! Der Abt würde es nie gestatten!“
Überrumpelt wich der Marine einen Schritt zurück. Die Überraschung in seinem Gesicht wich aber schon bald blanker Wut.
„Weg mit dir!“ spie er aus und wollte Merkius packen.
„Nur über meine Leiche.“ beharrte dieser und für einen Augenblick sah der Ministrant das auflodern blanker Mordlust in den Augen seines Gegenübers. Die Hand des Kriegers fuhr ihm an den Hals, aber anstatt ihm das Genick zu brechen, tätschelte sie ihm nur die Backe. Die Wut verschwand so plötzlich aus dem Gesicht des Marine wie sie gekommen war und machte einem diabolischen Grinsen Platz, dann lachte der Mann laut auf.
„Nun gut, kleiner Mann. Ich werde mit deinem Abt sprechen. Glaub mir, er wird es erlauben“. Damit wand er sich um und schritt mit wehender Kutte aus dem Raum.
Als der Mann schon lange fort war stand Merkius noch immer vor der Lade und sein Herz raste. Als der Marine ihn angegriffen hatte war dessen Kutte ein Stück den Arm hoch gerutscht und was Merkius dort gesehen hatte lies ihn glauben nur sehr knapp dem Tode entronnen zu sein.

Seine Sandalen klapperten laut auf den uralten Mosaiken, die die Kreuzgänge des Klosterkomplexes bedeckten. Er hatte keine Zeit und nicht die Muse, die kunstvollen Bilder längst vergangener Weihetaten zu betrachten. Merkius hatte es eilig und seine Mitbrüder warfen ihm abfällige und erstaunte Blicke hinterher. Es gehörte sich nicht für einen Mönch und Ministranten so durch die heiligen Hallen zu rennen. Aber das war Merkius egal. Wenn er recht hatte musste er sich beeilen. Lag er falsch, so hätte er noch mehr als genug Zeit Buße zu tun.
Er war an vier der großen Hauptkorridore vorbei geeilt und bog nun in den ersten der acht Gänge ein. Sein Ziel war die erste der zehn Türen: Die Kammer des Ersten Buches.
Vor dem Portal blieb er stehen. Was er vorhatte war ein Sakrileg, aber er musste es einfach tun. Er konnte vielleicht großen Schaden von Vanitas abhalten. Der Imperator würde das verstehen. Er musste! Noch einmal atmete er tief durch, dann klopfte er.
Nichts. Er klopfte erneut und dann noch mal. Und noch mal. Immer fester hämmerte er gegen die große verzierte Tür. Endlich schwang die Tür nach innen. Ein verschlafener Luktius stand im Rahmen und schaute seinen Freund verwundert an.
„Merkius? Weist du wie spät es ist?“
Merkius stürmte an seinem Freund vorbei in die Kammer.
„Schließ die Tür Luktius!“ zischte er.
„Was ist den los, du siehst aus als wäre dir der Imperator persönlich erschienen.“ nuschelte sein Freund als er langsam die Tür ins Schloss schob.
„Etwas Schreckliches geht vor! Er ist der Falsche! Aber …Wo ist das Buch!“
„Der falsche was? Imperator. Geht es dir gut?“ Nur langsam wurde der Hüter des Buches munter.
Merkius packte seinen Mitbruder an den Schultern. „Wo ist das Buch! Das Schicksal des Klosters hängt davon ab.“
„Dahinten! Wo es immer ist!“ Luktius nickte in Richtung eines kleinen Alkovens weiter hinten in der Kammer. Sofort stürmte der andere Mönch darauf zu. In einem schützenden Glaskasten lag das fast dreißig Zentimeter dicke in schmuckloses Leder gebundene Buch.
Hektisch fingerte Merkius an dem Behälter herum, ohne ihn auf zu bekommen.
„Was hast du vor?“ Luktius schien vom außergewöhnlichen Verhalten seines Freundes eher fasziniert als beunruhigt.
„Wie bekomme ich es auf?“ fragte Merkius atemlos.
„Gar nicht.“ erklärte der Hüter ruhig. „Es ist verboten das Buch zu berühren oder darin zu lesen.“
„Das weis ich doch. Aber es ist ein Notfall!“
„Willst du mir nicht erklären um was es geht?“
„Das kann ich nicht! Erst will ich mir sicher sein!“ Schweiß glänzte auf Merkius Stirn.
„Dann kann ich auch nichts für dich tun.“ Erstaunlicherweise blieb der junge Mönch die Ruhe selbst. Er hatte sich schon immer Sorgen um seinen Freund gehabt. Merkius legte einfach zu viel religiösen Eifer an den Tag. Kein Wunder also, dass er seine Träume für Visionen hielt. Er würde sich schon wieder beruhigen.
„Oh doch! Das kannst du. Öffne diesen verdammten Kasten und las mich das Buch lesen!“ Merkius schaute seinem Freund jetzt direkt in die Augen.
„Aber das ist verboten, das weißt du.“ Langsam machte er sich doch sorgen. So hatte er seinen Mitbruder noch nie erlebt.
„Genau so verboten wie der Kontakt zu Frauen.“ konterte Merkius, der sich ein wenig zu beruhigen schien.
Luktius Augen weiteten sich vor entsetzten. „Du würdest mich doch nicht…“
„Natürlich nicht, aber ich bitte dich: Zeig mir das Buch.“
Einen Augenblick schauten sich die Freunde nur schweigend an, dann schüttelte Luktius resignierend den Kopf. Er griff an Merkius vorbei und öffnete mit einer geübten Bewegung den Glasdeckel.
„Sei bloß behutsam.“ mahnte er.
Ehrfürchtig hob Merkius den Folianten aus seinem jahrtausende altem Bett. Ein merkwürdiges Gefühl beschlich ihn, als er daran dachte, das er vielleicht der erste Mensch war, der dieses Buch seit unermesslich langer Zeit wieder in den Händen hielt.
Es war schwerer als er gedacht hatte und der weiche Ledereinband gab in seinen Händen ein wenig nach. Behutsam trug er das Buch zu einem nahen Tisch, legte es ab und schlug langsam die erste Seite auf. Das Papier raschelte und der Leim im Buchrücken knarrte. Die Zeit hatte die Seiten spröde werden lassen und Merkius spürte, das er, wenn er nicht vorsichtig war, leicht eine davon herausbrechen konnte.
Die Schrift war verblasst und das Papier vergilbt. Seite um Seite waren mit eintöniger und fremdartiger Maschinenschrift beschrieben. Merkius glaubte einige Buchstaben wieder zu erkennen und vielleicht wäre es ihm sogar möglich gewesen, einzelne Worte zu entziffern, aber er wusste, dass er die Sprache nicht verstehen würde. Das war auch gar nicht was er suchte. Er suchte nach Bildern. In den ersten Kapiteln waren nur einige wenige Karten zu sehen. Der junge Ministrant erkannte darauf die Kontinente Vanitas´ wieder, aber vieles war anders: Dort wo heute große Städte lagen war nichts als Ödland, dafür schien das Meer vor Leben nur so zu wimmeln. Aus irgendeinem Grund hatten sich die Siedler in gewaltige Unterwasserstädte zurückgezogen. Die einzigen Gebäude an Land waren große Maschinen, welche Wolken zu produzieren schienen.
„Was ist das?“ fragte Lukitus, der ihm über die Schultern blickte. „Terraformer?“ las er stockend vor.
„Du kannst diese Schrift lesen?“ fragte Merkius verblüfft.
„Ja, du nicht? Sieh, es ist wie gotisch nur einfacher, klarer.“
Lukitus hatte Recht. Wenn man die Buchstaben etwas genauer betrachtete, schienen sie dasselbe Alphabet zu bilden wie imperiales Gotisch. Das war ganz schön nur nützte es ihnen nichts, da die Sprache ihnen genau wie Merkius vermutet hatte fremd war.
Er blätterte weiter, fand aber immer noch nicht, was er suchte.
Sie hatten das Buch fast durchgeblättert, als sie das erste mal ein bekanntes Wort lasen. „Ravenguard“ flüsterte Merkius. Auf der Seite war das Bild eines gewaltigen Raumschiffes auf dem das Zeichen der Ravenguard Space Marines prangte.
Aufgeregt blätterten sie weiter. Mit jeder Seite wurden die Bilder martialischer. Sie sahen fremde Armeen Aufstellung nehmen. Sahen Panzer und Raumschiffe und schließlich sahen sie Krieg. Die Marines kämpften gegen die Einwohner des Planeten. Die Schlacht schien sich lange hin zu ziehen und so unglaublich es war: die Ravenguard schien zu verlieren!
„Das ist ja…“ Luktius fehlten die Worte.
„Jetzt wird mir klar, warum es verboten war in den alten Büchern zu lesen.“ erklärte Merkius, „Die Befreiung war eine Eroberung und lief wohl nicht ganz so, wie die Ekklesiachie es uns glauben machen will.“
„Aber irgendwie müssen die Krieger des Imperators doch gewonnen haben!“ beharrte Luktius. Der junge Mann machte einen sehr unbehaglichen Eindruck. Es gefiel im gar nicht wie sie an den Grundsätzen ihres Glauben herumforschten. Sie sollten froh sein, das sie erobert worden waren und der Imperator nun seine schützende Hand über sie alle hielt.
Sie fanden die Antwort auf seine Frage ein paar Seiten später. Ein weiterer Orden der Space Marines traf auf dem Schlachtfeld ein und wendete das Blatt. Als Merkius die Bilder der Imperialen Soldaten sah wurde er bleich.
„Der Imperator steh uns bei. Die Schlange die sechs Augen hat! Ihrer drei Zungen, aber nur einen Leib!“ flüsterte er.
„Was faselst du da? Das ist eine Hydra.“ erklärte ihm Lukitus.
Aber sein Freund hörte ihn schon nicht mehr. Schnell überflog er die nächsten Seiten und nach einer weile löste imperiale Handschrift die fremde Maschinensprache ab.
„Siehst du? Das Gute hat gesiegt, wie es in den Kateschismen steht.“ sagte Lukitus sichtlich erleichtert. Er ging zu seinem Bett und griff zu einer Flasche Wasser die daneben stand. „Es ist also doch alles war. Nur diesen anderen Orden hat man vergessen. Ich frag mich nur, warum. Ich habe noch nie etwas von einer ´Alphalegion´ gehört.“
Während sein Freund schon sich schon wieder im Schoss der Imperialen Kirche sah fand Merkitus den Beweis für seine schlimmsten Befürchtungen. Auf der letzten Seite des Buches stand in zittriger Handschrift: Bruderkrieg.

Ohne ein Wort des Abschieds war Merkius aus der Kammer des ersten Buches gestürzt. Was sollte er jetzt tun? Er musste den Abt warnen. Aber zuerst wollte er die Lade in Sicherheit wissen. So schnell er konnte rannte er zurück in die dreiundsechzigste Kammer. Die Blicke seiner Mitbrüder waren ihm jetzt gänzlich egal, seine Gedanken rasten. Wie konnte es sein, das einer der Verräter nach so langer Zeit noch am Leben war? Was wollte er mit den Überresten eines lange toten Kriegers? Und warum kam er jetzt, nach zehntausend Jahren?
Merkitus riss die Tür zu seiner Kammer auf und als sein Blick auf das Podium fiel wäre ihm beinahe das Herz stehen geblieben: Leer. Das Podium war leer. Die Lade war gestohlen. Er kam zu spät! Drei, vier Herzschläge lang waren seine Gedanken wie Brei. Zu spät, was konnte er tun. Dann wand er sich auf dem Absatz um und rannte los. Der Abt musste es erfahren. Ekklesiarch Probas wüsste Rath.
Die Kanzlei des Klosters lag auf der anderen Seite der Kathedrale. Als Merkius durch das riesige Kirchenschiff lief fiel sein Blick auf die gewaltige goldene Statur von Ihm auf Erden, dem Imperator. Seid er klein war, war Merkius regelmäßig in der Kathedrale gewesen. Hier hatte er immer Trost und Ruhe gefunden. Das Abbild des Imperators war ihm eine Stütze gewesen und jedes Mal wenn er es angeschaut hatte, war es ihm so vorgekommen, als schaue der Imperator auf ihn zurück. Er hatte sich behütet gefühlt. Als er nun in das Gesicht der Statue Blickte sah er nichts: Nur das kalte Gold einer starren Maske.
„Wenn ich gesündigt habe, strafe mich Herr, aber wende den Schaden vom Kloster ab.“ betete Merkius der sich plötzlich elend und schuldig fühlte. Er hatte gegen die Regeln seines Ordens verstoßen. Aber doch nur weil er das Beste gewollt hatte.
Kopfschüttelnd eilte er weiter. Jetzt war nicht die Zeit für Theologie. Es war Zeit zum handeln. Außerdem war es sich doch sicher das Richtige zu tun, oder? Dennoch fühlte er sich seltsam einsam und verlassen, als er in das Vorzimmer des Abtes rannte.
„Bruder Merkius?“ der Sekretär des Ekklesiarchen fuhr überrascht aus seinem Stuhl hoch, „Was tut ihr? Ihr könnt jetzt nicht…“ Aber Merkitus ignorierte den Mann und stieß die Tür zum Arbeitszimmer auf.
„…Progenitordrüse…“ hörte er die Stimme des Ekklesiarchen noch sagen, bevor er sich ohne zögern vor seinem Abt auf die Knie warf.
„Verzeiht, Herr, aber…“ setzte er zu einer Entschuldigung an und hob den Blick. Dann aber verstummte er: Auf dem Schreibtisch des Kirschenfürsten stand die goldene Reliquienlade aus seiner Kammer. Der Deckel war geöffnet und Probus, der dahinter stand hatte einen kleinen gläsernen Kasten daraus empor gehoben in dem ein kleines, braunes Organ lag.
Hinter sich hörte Merkius die Tür zuschlagen und als er sich umsah erblickte er den Verräter Marine. In seiner langen schwarzen Robe stand er vor der jetzt geschlossenen Tür und schenkte dem Ministranten das selbe diabolische Lächeln wie bei ihrer letzten Begegnung.
„Habe ich dir nicht gesagt der Abt wird es erlauben?“
„Aber das ist…“ stotterte Merkius fassungslos.
Mit dem rechten Arm, dem Arm auf den die große Hydra tätowiert war, griff der Alphalegionär unter seine Kutte und zog eine riesige Pistole hervor. Er hob sie soweit, bis Merkius in den Lauf der Waffe starrte und einen Moment glaubte der Ministrant sogar, er könne die Bolterpatrone darin sehen.
„Häresie.“ sagte der Marine und drückte ab.


Der Autor
"Eine neue Geschichte für den neuen Fanwork Award. Nach einem eher misslungenen Ausflug in das Genre des Schlachtenepos hab ich davon schnell die Finger gelassen. Ich habe überlegt, was es ist das mich an 40k reizt und das ist ganz klar der düstere, stimmungsvolle Hintergrund.
Also habe ich versucht etwas von dieser Stimmung, die für mich Warhammer 40.000 durchdringt, einzufangen und zu Papier zu bringen. Die Alpha Legion ist meine Lieblingsbande von Häretikern und nichts ist so schön morbide wie die Ekklesiarchie. Blieb nur noch ein ahnungsloses Opfer zu finden… Als die Idee erstmal geboren war ging das schreiben recht schnell: Drei Abende nach der Uni und Merkius´ Schicksal war besiegelt."

Die Jury
"Der wahre Dreh- und Angelpunkt, wenn Merkius in dem alten Buch wälzt, wird zwar erst nach gründlichem Lesen verständlich aber dann kommt die Überraschung mit einem ganz großen Paukenschlag. Die perfide Art und Weise der Alpha Legion, die sogar die Inquisition täuschen kann, wird perfekt rübergebracht und die bitterböse Auflösung erinnert an 'Outer Limits' während den besten Tagen der Serie.
Das theokratische Modell, das im Imperium beinahe allgegenwärtig ist wird kommt super rüber, auch wenn dieses Modell wohl etwas anders ausgerichtet ist, als die gängige imperiale Lehre. Jedoch nicht zu verzeihen ist meiner Meinung nach der Fauxpas, den Obersten des Schreines Ekklesiarch zu nennen."
"Eine der besten Storys, die ich je gelesen habe. Der Charakter der Alpha Legion sowie der der Ekklesiarchie kommen perfekt rüber, der Schreibstil ist sehr gut, ebenso wie die Handlung und deren evtl. Folgen, welche weit über die eigentliche Geschichte hinausgehen."
"Schöne Geschichte mit subtiler Spannung in einem frischen und interessanten Setting. Im Vergleich zum letztjährigen Gewinner 'Alcante' desselben Autors ist die Überraschung am Ende jedoch relativ vorhersehbar. Aber vielleicht habe ich auch zu sehr im Vorfeld so eine Wendung von ihm erwartet."
"Liest sich sehr schön auch wenn die Pointe für den 'Kenner' schon recht früh zu durchschauen ist. Was mir besonders gefällt, ist dass mal Nicht-Militärs die handelnden Personen sind."

2. Platz >