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FELIX BIRBAUMER - "DIE SILBERBLÜTE"

Es ereygnete sich vor nicht allzu langer Zeyt, im Lande Bretonia,
als der tapfre Philippe de Lúcard
auf der Jagd nach der Silberbluete ward.

Als der Morgen graute und die ersten warmen Frühlingssonnenstrahlen über den Horizont krochen, sah man einen jungen Ritter zu Pferde von der heimatlichen Burg wegreiten.
Es war Philippe de Lúcard, Sohn des Herzogs Chrétien de Lúcard, welcher Herr über die Burg „Géau-Montenesse“ war.

Der junge Philippe war ein Edelmann, kaum siebzehn Sommer alt, und doch schon so reich bewandert in der Kunst der Diplomatie, des Gesanges und vor allem in der Kriegsführung. Seines Vaters Ratgeber und Ritter unterwiesen Philippe in königlichem Benehmen und angemessenem Verhalten gegenüber Freund und Feind, Frauen und Männern. Er lernte rasch und war innerhalb kürzester Zeit ein angesehener Adeliger. Sein Geschick im Umgang mit Schwert und Lanze war legendär, auf vielen Turnieren errang er den Sieg. Sein Vater war stolz ob des Könnens seines Sohnes und wog sein Lehen in Sicherheit, wenn Philippe einst darüber herrschen mochte.

Doch so ehrlich, geschickt und wissbegierig Philippe de Lúcard auch war, als Ritter hatte er sich noch nicht bewiesen. Doch eines Tages, kurz nach seinem sechzehnten Geburtstag, kam sein Vater und erzählte ihm von einer seltenen Blume, welche nur im Frühling gedieh. Es war die Silberblüte, ein Gewächs von unnatürlich schönem Äußeren und einer wundersamen Kraft, welche ihr inne wohnte. Schon seit jeher war sie das Wappenzeichen der Familie Lúcard, und jeder Nachfahre blaublütigen Geschlechts solle sie suchen und nach Hause tragen, auf das er sich als Ritter würdig erweist.
Und da sprach der Vater des Jünglings: „Suche diese Blume, bringe sie hinter Hof und Mauer, verteidige sie mit deinem Leben und deinem Glauben. Dann wirst du zum Ritter geschlagen, zu einem Ritter des Königs.“
„Und wo finde ich diese Blume, Vater?“, fragte Philippe voll Ehrgeiz.
„Sie wächst nur im Wald von Athel Loren, zwischen dicht Gestrüpp und hoch aufragender Bäume.“

So also begab es sich, dass der junge, ungestüme Philippe sein Ross sattelte, sich seinen Waffenrock und sein Kettenhemd überwarf, Helm und Schild mitnahm und auch Schwert und Lanze nicht vergaß. Und am nächsten Morgen ritt er der aufgehenden Sonne entgegen, über Hügel und Felder, durch Wälder und Flüsse. Er hatte schon von dem geheimnisvollen Wald von Loren und dessen geisterhaften Gefahren gehört, doch er tat es als Geplapper abergläubischer Bauern ab. In seinem Herzen hatte nun bloß die Silberblüte Platz, und der Gedanke an den ehrwürdigen Ritterschlag, welcher ihn in den nächsten Stand auffahren lassen würde. Seine Ungestümheit wurde nur noch von seinem Ehrgeiz überschattet, und so ritt er quer durch Bretonia. Er sah viel vom Land und der Bevölkerung, traf auf seltsame Leute und andere Ritter. Und auf seinem Weg nach Athel Loren machte er in größeren Städten Rast und vergnügte sich dort mit den Frauen der Edelleute, nur um am nächsten Tag ein weiteres Herz zu brechen.

Sei es wie es sei, zwei Monate nach seinem Aufbruch sah er die ersten Ausläufer des Waldes. Athel Loren’s Grenzen waren groß und dunkel, bedrohlich wirkte der Waldrand. Urtümliche, moosüberwucherte Bäume wachten am Rand und ließen keinen einzigen Blick in das Waldesinnere hindurch. Alte, von Schlingpflanzen gefangene Menhire markierten die Grenze zwischen Bretonia und der sagenumwobenen Welt des Waldes. Wie eine magische Mauer wirkten die Menhire, kein einziger Zweig oder Ast reichte auch nur darüber und kam so mit Bretonia in Berührung. Als Philippe de Lúcard vor dem gewaltigen Wald stand, überkam ihn ein seltsames Gefühl. Er fühlte missbilligende Blicke auf sich ruhen. Auch sein Streitross tänzelte unruhig von Huf zu Huf. Dunkelheit und Düsternis hingen zwischen den mächtigen Bäumen des Waldes und erinnerten an eine vergessene, urgewaltige Welt eines vergangenen Zeitalters. Ferne, gedämpfte Waldgeräusche drangen heraus. Leises Vogelgezwitscher war über den Wipfeln der Bäume zu hören. Brütend lag Athel Loren vor dem Fahrenden Ritter, und er starrte noch immer misstrauisch in das Gestrüpp hinein.

„Nun denn, auf nach Ruhm und Ehre!“, ermutigte sich Philippe und festigte seinen Griff um die Lanze.
„Für die Herrin und Bretonia.“, fügte er schließlich leise hinzu und trabte dem Wald entgegen. Die Hufe seines Pferdes betraten vorsichtig den Waldboden. Knackend zerbrachen Zweige unter dem Gewicht des Rosses und seines Reiters. Kaum hatte Philippe die magische Grenze der Menhire passiert, umfing ihn ein unbehagliches Gefühl. Er spürte wachsame Augen auf sich ruhen und uralten Zorn. Sein Ross warf unruhig den Kopf nach hinten. Beinahe hätte es den Ritter aus dem Sattel geworfen, doch er konnte noch rechtzeitig die Zügel ergreifen und sich halten. Hier im Wald war es still. Kein Wind strich durch die Äste, es war beängstigend. Kein Blatt raschelte, kein Tier bewegte sich im Unterholz. Es schien, als würde alles stillstehen und den ungebetenen Besucher beobachten. Bloß der schnaubende Atem seines Pferdes und das Knirschen seines Kettenhemdes waren zu hören – in dieser ewigen Stille hörte es sich sogar aufdringlich laut an.

Doch Philippe dachte nicht daran umzukehren, seine Gedanken ruhten auf seiner Aufgabe. So ritt er langsam und gewahr weiter in Athel Loren hinein. Je tiefer er vordrang, umso gewaltiger erschien ihm der Wald. Er wurde zunehmend dunkler und dichter, unheimlicher und stiller. Das Blätterdach über ihm verwehrte der Sonne den Eintritt, so wurde es auch kühler. Die Fauna und Flora dieses Waldes beeindruckte den jungen Ritter. Pilze so groß wie ein Hund lehnten an stämmigen, knorrigen Bäumen, Blumen in den vielfältigsten Farben sprossen aus der weichen Walderde und Schlingpflanzen sowie Sträucher überwucherten sich gegenseitig. Der Wald schien stetig in Bewegung zu sein, nichts blieb unberührt, kein Fels, kein Baum und kein Pilz.

Nach einem Tag Reise durchs Unterholz gelangte Philippe an eine Quelle, welche ihren Ursprung mitten im Walde hatte. Dieser liebliche Wasserlauf schien magisch, glitzernde Wellen kräuselten sich an der Oberfläche und plätscherten ein Lied der Unbehagtheit. So stieg der Ritter von seinem Ross und nahm einen Schluck. Das Wasser war kühl und erfrischend – es schien, als würde es den gesamten Körper des Ritters reinigen. Und als sich Philippe wieder erhob, fiel sein Blick auf einen moosüberwachsenen Stein neben der Quelle. Er entdeckte sie – die Silberblüte! Sie reckte sich hinter dem Stein in die Höhe als ob sie über ihn hinweg blicken wollte. Es war eine wunderschöne Blume. Silbrige Blüten umringten den Blütenkern, welcher in sanftem Weiß schimmerte. Die Blätter waren klein und zerbrechlich, als wären sie aus Glas. Philippe sprang sofort ans andere Ufer und rollte den Stein beiseite.
„Die Silberblüte!“, hauchte der Ritter und pflückte die Blume. Er konnte seinen Blick kaum mehr von ihr abwenden, als wäre er von ihrer Schönheit in einen Bann gezogen worden.

Sofort bestieg Philippe de Lúcard sein Ross und kehrte um. Es erschien ihm als leichte Aufgabe, diese Blume in die heimatliche Burg zu bringen. Er beschloss, zuhause die Geschichte etwas auszuschmücken um stark und mutig dazustehen. Ein geifernder Wolf oder ein heimtückischer Kobold sollten reichen, wollte er seinen Vater beeindrucken. So ritt er durch Athel Loren, stets darauf bedacht den Wald zu verlassen.

Plötzlich vernahm Philippe Geräusche. Er glaubte, es seien Schritte. Er ließ seine Augen durch das Dickicht schweifen. Da war bestimmt etwas. Er umklammerte fest seine Lanze. Vielleicht würde er doch noch einem Feind gegenüberstehen und müsste sich die Silberblüte im Kampfe verdienen. Rasch steckte er die Blume weg, der Gedanke an den Verlust dieser Pflanze beunruhigte ihn.
„Reite wie der Wind, lasse den Wald hinter dir!“, flüsterte der Ritter seinem Pferd ins Ohr und gab ihm die Sporen. Wiehernd warf das Tier seinen Kopf nach hinten und preschte vorwärts. Vor den Augen des Ritters verschwamm der Wald ringsum zu einer grünen Masse. In seinem Herzen gedieh die Furcht, dieser Wald bereitete ihm Sorgen. Und als Philippe noch in angstvollen Gedanken schwelgte, zischte es scharf. Aus dem Unterholz kam ein dunkler Pfeil geschossen, zischend schnitt er durch die Luft und bohrte sich schließlich in den Hals des Pferdes. Schnaubend schreckte das Ross auf und strauchelte. Philippe de Lúcard fiel aus dem Sattel und verlor seine Lanze. Hart prallte er am Waldboden auf, sein Pferd verendete elendig an der tiefen Wunde am Hals. Hektisch zog der Ritter sein Schwert und ergriff seinen Schild. Er klappte das Visier seines Helmes nach unten und verharrte. Sein Blick glitt unruhig zwischen Baum und Strauch, seine Atmung ging schwer.

Seine Augen weiteten sich mit Grauen, als es hinter ihm nochmals zischte. Er konnte seinen Angreifer nicht einmal erkennen, so schnell geschah es. Er spürte stechenden Schmerz im Rücken und fiel auf die Knie. Seine Augen wurden glasig, röchelnd versiegte ihm die Kraft. Sein Schwert fiel ihm aus der Hand, der Schildarm sackte machtlos zu Boden. Vor ihm verschwamm alles, ein weißlicher Schleier umfing seinen Blick. Er hörte nichts, bloß sein eigener, tiefer Atem dröhnte in seinen Ohren. Und da, blass im Schleier erkennend trat ein großer Krieger hervor. Alles was der Bretone sehen konnte, war ein langes Gewand in den Farben des Frühlings und Haar, so fein und schimmernd wie von Gold. Philippe konnte schwören, dieser schlanke, anmutige Krieger hielt einen Bogen in der Hand, welcher mit Efeu umrankt war. Dann wurde es schwarz vor den Augen des Ritters, Kälte umfing ihn. Er fiel um und verlor jeglichen Gedanken.

Seine sterbliche Hülle war vergangen, doch der Geist des jungen Edelmannes blieb bis in alle Ewigkeit zwischen den Stämmen der uralten Bäume Athel Loren’s…

Und so ward es geschehen,
Philippe de Lúcard starb durch eynen Bogen,
einem Pfeil, welcher kam aus Loren geflogen…


Der Autor
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Die Jury
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< 2. Platz (IV)