Cordelia Spaemanns, eine ausgewiesene Kennerin Tolkiens und der phantastischen
Literatur überhaupt, veröffentlichte 1992 im zehnten Band von “Inklings”,
dem “Jahrbuch für Literatur und Ästhetik”, einen Überblick
über die phantastische Literatur und ihre Geschichte. Auf Tolkien kommt sie
zu sprechen, nachdem sie aufgezeigt hat, wie sich zuvor eine Ästhetik des
Hässlichen breitgemacht hatte, die das Böse gegenüber dem Guten
als die stärkere Macht darstellte: “Erst auf diesem Hintergrund kann
man die immense Wirkung verstehen, die in der Mitte unseres Jahrhunderts das Werk
Tolkiens hervorgebracht hat. Die allgemeine Erregung, die Ablehnung, die Begeisterung
läßt vermuten, dass Der Herr der Ringe in der Welt des Lesers
so etwas wie eine erneute Öffnung der Welt, einen Einbruch des Wunderbaren
bedeutet haben muss. Dieser Einbruch hat allerdings den allergrößten
Aufwand, den Einsatz eines ganzen Autorenlebens erfordert. Tolkien hat einmal
gesagt, er könne sich an keine Zeit erinnern, in der er nicht am Herrn
der Ringe gearbeitet hätte. Es ging ihm um nichts Geringeres als darum,
die Welt noch einmal zu schaffen, mit einem eigenen Schöpfungsmythos, einer
uralten Geschichte, einer eigenen Geographie und erdachten, nicht menschlichen
Populationen, die je ihre eigene Sprache sprechen mit einem eigenen Vokabular
und einer eigenen grammatischen Logik. Dieser Aufwand war offenbar notwendig,
um die moderne Welt von etwas zu überzeugen, das es eigentlich gar nicht
mehr geben konnte: den möglichen Sieg über die böse Macht.”
Tolkien wollte den Leser weder moralisch belehren noch ideologisch beeinflussen.
“Ich hatte nirgendwo sehr viel Besonderes an bewussten, intellektuellen
Absichten im Sinn.”1 Er wollte eine spannende Geschichte schreiben.
Aber es ist klar, dass sich in einem solchen Lebenswerk die Seele seines Autors
widerspiegelt. Es enthält eine Botschaft unabhängig von der expliziten
Aussageabsicht des Autors so wie die Schrift für den Graphologen eine Botschaft
enthält unabhängig vom Inhalt des Geschriebenen. Das hat auch Tolkien
gewusst, und in diesem Sinne hat er einmal geschrieben: “Der Herr der
Ringe ist natürlich von Grund auf ein religiöses und katholisches
Werk; unbewusstermaßen zuerst, aber bewusst im Rückblick.”2
Der Charakter des Autors prägt auch den Charakter des Werkes. Der religiöse
Mensch hat ein geschärftes Auge für Gut und Böse. Er weiß,
dass es sich dabei um vorgegebene Wirklichkeiten handelt und nicht um Konventionen
oder Produkte sozialer oder biologischer Evolutionsprozesse. Im praktischen Leben
weiß dies im Grunde auch jeder andere Mensch, auch wenn er im reflexiven
Bewusstsein anderen Theorien anhängt. Der religiöse Mensch ist sich
dessen bewusst, dass der Kampf zwischen Gut und Böse, also die sittliche
Bewährung, das Thema des ganzen Lebens ist. Unser Leben bekommt erst dadurch
seinen Sinn. Wenn man in Tolkiens phantastische Welt eintritt, erscheint diese
Wahrheit in neuem, herrlichen Licht, so wie die Natur in Lothlórien, die
in den altbekannten Farben Gold, Weiß, Blau und Grün so frisch und
strahlend aufscheint, als ob man der Farben zum ersten Mal gewahr werde. All die
Werte, die das Gute in seiner mannigfaltigen Fülle ausmachen, wie Treue,
Barmherzigkeit und Opferbereitschaft, erscheinen im Herrn der Ringe in
neuer Plastizität, so dass dem nachdenklichen Leser ihr metaphysischer Status
klar wird: Sie gelten für alle möglichen Wesen. “Wie er immer
geurteilt hat”, läßt Tolkien Aragorn auf die Frage Éomers
antworten, wie ein Mensch beurteilen soll, was er in solchen Zeiten tun soll.
Denn: “Gut und Böse haben sich nicht in jüngster Zeit geändert;
und sie sind auch nicht zweierlei bei Elben und Zwergen auf der einen und Menschen
auf der anderen Seite. Ein Mann muss sie unterscheiden können, im Goldenen
Wald ebenso wie in seinem eigenen Haus.” (HdR III,2). In der Gestalt Sarumans
wird deutlich, dass schon die Relativierung von Gut und Böse, die Verwischung
ihres Unterschieds, ein Werk des Bösen ist. Saruman glaubt, dass die Zeiten
sich geändert haben und es nun “klug” sei, mit dem Bösen
zu paktieren. “Unsere Absichten brauchen sich nicht wirklich zu ändern
und würden sich auch nicht ändern, nur unsere Mittel.” (HdR II,2).
Der gute Zweck heiligt nicht die bösen Mittel, dieser Grundsatz gilt
entweder immer oder nie. Der Gedanke der Wandelbarkeit der Werte zerstört
gerade ihren Wertcharakter. Die Schönheit sich selbst opfernder Liebe3,
Freundschaftstreue, Barmherzigkeit: Dies sind Themen, die sich durchs ganze Werk
Tolkiens hindurchziehen und darin über alle Zeitalter und alle Grenzen zwischen
Menschen, Elben, Zwergen und Hobbits hinweg gelten. Und jeder, der sich der Schönheit
dieser Werte öffnet, merkt: Es ist wahr. Dass die praktische Vernunft für
alle möglichen Vernunftwesen nur eine sein kann, wusste unter den
Philosophen auch noch Immanuel Kant.
Trotz allen gegenteiligen Anscheins weiß der Christ um die größere
Macht des Guten. Genau dies ist das Zentralthema in Tolkiens Werk. Am Ende tragen
die Opferbereitschaft Frodos und die Freundschaftstreue Sams den Sieg über
die Übermacht des Bösen davon. Aber schon vorher gibt es Augenblicke,
wo jene Wahrheit erahnt wird. Über Sam, als er sich mit Frodo in hoffnungsloser
Lage im finsteren Land des Feindes befindet, heißt es: “Dort, zwischen
dem Gewölk über einem dunklen Felsen hoch oben im Gebirge, sah Sam eine
Weile einen weißen Stern funkeln. Seine Schönheit griff ihm ans Herz,
als er aufschaute aus dem verlassenen Land, und er schöpfte wieder Hoffnung.
Denn wie ein Pfeil, klar und kalt, durchfuhr ihn der Gedanke, dass letztlich der
Schatten nur eine kleine und vorübergehende Sache sei: es gab Licht und hehre
Schönheit, die auf immer außerhalb seiner Reichweite waren.”
(HdR VI,2). Das Böse ist im Vergleich zum Guten trotz zeitweiliger Machtausübung
etwas Nichtiges. Der Verlauf der Erzählung dient u.a. dazu, diesen Charakter
des Bösen zu entschleiern. “Das religiöse Element ist in die Geschichte
und ihre Symbolik eingelassen”, hat Tolkien im schon zitierten Brief an
Murray geschrieben.
Zu dieser Symbolik gehört die Rettung aus Gnade. Eigene Kraft reicht zum
Sieg über das Böse nicht hin. Dies zeigt sich im finalen Scheitern Frodos,
der der Macht des Ringes erliegt. “Frodo ist ‘gescheitert’ (...)
Der Macht des Bösen in der Welt können leibliche Geschöpfe letztlich
nicht widerstehen, auch wenn sie noch so ‘gut’ sind”, schreibt
Tolkien im Entwurf eines Briefs an J. Burn vom 26. Juli 1956. “Er (und die
Sache) wurden gerettet ? durch Gnade: durch den höchsten Wert und die Wirksamkeit
des Mitleids und der Vergebung von Schuld.” Die “Errettung vor dem
Verderben” hängt nicht von physischer Stärke ab (das waren der
Irrtum Boromirs und Sarumans), sondern “von etwas scheinbar damit Unverbundenen”:
“der allgemeinen Heiligkeit (und Demut und Barmherzigkeit) der Opferperson”
(ebda.).4
Der Ermöglichungsgrund dieser Verbindung zwischen Heiligkeit und Rettung
liegt nach Tolkien in Gott. Rettung aus Gnade bedeutet Rettung durch ein unerwartetes
Eingreifen Gottes: “Frodo verdiente alle Ehre, weil er jede Unze Willens-
und Körperkraft eingesetzt hat, und das reichte eben aus, ihn bis an den
vorbestimmten Punkt zu bringen, aber nicht weiter (...) Dann griff die Andere
Macht ein: der Autor der Geschichte (womit ich nicht mich selbst meine), ‘die
eine, immer gegenwärtige Person, die niemals abwesend ist und niemals genannt
wird’5 (wie ein Kritiker gesagt hat).”6 Gott
ist im Herrn der Ringe stets im Hintergrund präsent. Aber Tolkien
überlässt es dem Leser, dies zu entdecken, und begnügt sich mit
Andeutungen: “Ich habe mich absichtlich bei allen Anspielungen auf die höchsten
Dinge auf Andeutungen beschränkt, die nur der Aufmerksame erkennen kann,
oder sie unter unerklärten symbolischen Formen gehalten. Darum kommen Gott
und die ‘engelhaften’ Götter, die Herren oder Mächte des
Westens, nur an manchen Stellen kurz zum Vorschein, wie in Gandalfs Gespräch
mit Frodo: ‘Im Hintergrund war noch etwas anderes am Werk, das über
die Absicht des Ringschöpfers hinausging’; oder in Faramirs númenórischem
Danksagungsritus beim Essen.”7
Tolkien will in der Handlung der Geschichte den Schauplatz bereiten, auf dem die
Charaktere sich zeigen können.8 Gegen eine allegorische Deutung
hat sich Tolkien stets gewandt9: die Personen stehen nicht für
bestimmte Werte oder Dinge, die sie personifizieren. Aber die Wahrheit, Macht
und Schönheit der Werte wird in ihnen und ihren Handlungen sichtbar. In diesem
weiteren Sinne sind sie Allegorien. Sie stehen zum Urbild im selben Verhältnis
wie das wirkliche Leben. “In weiterem Sinne ist es, glaube ich, unmöglich,
eine ‘Geschichte’ zu schreiben, die nicht in dem Maße, in dem
sie ‘zum Leben erwacht’, allegorisch wäre; denn jeder von uns
ist eine Allegorie, die in einer besonderen Erzählung und eingekleidet in
die Gewänder von Ort und Zeit eine universelle Wahrheit und das ewige Leben
verkörpert.”10
Die Charaktere Frodos und Sams rühren uns nicht weniger an als die realer
Menschen. Der Ermöglichungsgrund dieser Wirkung liegt in der Vorgegebenheit
dessen, was als Wert, letztlich als göttliche Urschönheit, in diesen
Charakteren aufscheint, gleichgültig ob im Buch oder im wirklichen Leben.
Die Werte selber sind nicht erfunden, weder von Tolkien in Mittelerde noch von
uns in der “Primärwelt”. Das Medium der Veranschaulichung ändert
nichts an der Wahrheit dessen, was zur Veranschaulichung kommt.
Das Wort “Primärwelt” verwendet Tolkien in einem Aufsatz “Über
Märchen”, in dem er u.a. seine Theorie des künstlerischen Schaffens
als einer Nachahmung göttlichen Schaffens darlegt. Es ist eine Zweitschöpfung.
Die Freude, die das Märchen gewährt, liegt in der plötzlichen Wendung
zum Guten, der guten Katastrophe, von Tolkien “Eukatastrophe” genannt.
Bezeichnenderweise verteidigt Tolkien diese Freude gegen den Vorwurf, sie sei
wirklichkeitsflüchtig. Sie verleugnet nicht Leid und Misslingen, wohl aber
“die endgültige, allumfassende Niederlage, und insofern ist sie Evangelium,
gute Botschaft, und gewährt einen kurzen Schimmer der Freude, der Freude
hinter den Mauern der Welt, durchdringend wie das Leid.” Das christliche
Evangelium ist die in der Primärwelt wahrgewordene Eukatastrophe. “Christi
Geburt ist die Eukatastrophe der menschlichen Geschichte.” Die christliche
Freude und die Freude, von der das Märchen kündet, sind nach Tolkien
von derselben Art mit dem Unterschied, dass das Evangelium ein “Märchen”
ist, das sich in der Primärwelt zugetragen hat und dessen Autor Gott ist.
Tolkien war gläubiger Katholik. Er, der große Erfinder von Mittelerde,
hielt es für unmöglich, dass das, was die Evangelien über Jesus
sagen, erfunden sein könnte: “Es gehört ein phantastischer Wille
zum Unglauben dazu, anzunehmen, dass Jesus nie ‘dagewesen’ sei, und
noch mehr, anzunehmen, dass er nie gesagt habe, was von ihm berichtet wird Dinge,
von denen es so unmöglich ist, dass irgendwer auf der Welt zu jener Zeit
sie ‘erfunden’ haben könnte: so etwa, ‘ehe Abraham ward,
bin ich’ (Johannes VIII); ‘wer mich gesehen hat, hat den Vater
gesehen’ (Johannes IX); oder die Verkündigung des Heiligen Sakraments
in Johannes VI: ‘Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, hat das ewige
Leben.’”11 Das Allerheiligste Altarsakrament war Tolkiens
große Liebe und der Inbegriff dessen, was das menschliche Herz ersehnt.
An seinen Sohn Michael schrieb er: “Aus dem Dunkel meines so oft frustrierten
Lebens zeige ich Dir das Große, das man auf dieser Erde lieben muss: das
Allerheiligste Sakrament. Dort wirst Du Abenteuer, Ruhm, Ehre, Treue und den wahren
Weg all Deiner Herzensneigungen auf der Erde finden, ja, mehr als das.”12
Möge der Leser durch alle Begeisterung am Herrn der Ringe vordringen
bis zur tiefsten Quelle, aus der Tolkien selber geschöpft hat und die alles
überreichlich in sich birgt, was einem auf Erden und auf Mittelerde zu Recht
lieb und teuer sein kann.
Aus: Cordelia Spaemann, Der Riss in der Welt. Tolkien und die Hintergründe.
Kostenlos zu beziehen bei: www.tolkien.beep.de
1 Brief vom 7. Juni 1955 an W.H. Auden
2 Brief vom 2. Dezember 1953 an Robert Murray
3 “Frodo unternahm seine Queste aus Liebe um die Welt, die er
kannte, auf eigene Kosten, wenn er dazu imstande war, vor der Katastrophe zu retten;
und zugleich in vollkommener Bescheidenheit, mit dem Eingeständnis, dass
er für seine Aufgabe völlig ungeeignet sei.” Entwurf eines Briefs
an Eileen Elgar vom September 1963
4 An anderer Stelle schreibt Tolkien zum selben Thema: “In diesem
Fall war es die Sache (nicht der ‘Held’), die triumphierte, denn durch
Übung von Mitleid, Erbarmen und Vergebung von Schuld wurde eine Situation
geschaffen, in der alles wiedergutgemacht und die Katastrophe abgewendet wurde.”
(Brief an Amy Ronald vom 27. Juli 1956)
5 “So auch als ‘der Eine’ bezeichnet in Anh. A III,
p.317 1.20. Die Númenórer (und die Elben) waren absolute Monotheisten”
[Anmerkung von Tolkien selber zu dieser Stelle].
6 Brief an Amy Ronald vom 27. Juli 1956.
7 Brief an Robert Murray vom 4. November 1954
8 cf. Entwurf des Briefes an Joanna de Bortadano vom April 1956
9 “Ich verabscheue die Allegorie die bewusste und beabsichtigte
Allegorie” (Brief an Milton Waldman von 1951)
10 Brief vom 7. Juni 1955 an W.H. Auden
11 Brief an seinen Sohn Michael vom 16. Oktober 1963
12 2Brief vom 9. Juni 1941, hier in der Übersetzung Gisbert Kranzs
im Inklingsjahrbuch 1992, Seite 14.
Autor: Engelbert Recktenwald
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