Ein kühler Wind
zog durch das kleine Fenster von Beutelsend als erster Vorbote
des nahenden Winters. Draussen war der Himmel bewölkt und
Bilbo Beutlin überlegte nicht zweimal, als er an dem leichten
Sommermantel vorbei nach dem gefütterten Umhang griff. Die
Mütze tief ins Gesicht gezogen öffnete Bilbo die Türe
und wollte sie wieder hinter sich schliessen, als ein kleiner
Knabe mit dunklem Kraushaar auf ihn zugerannt kam und ihn am Ärmel
packte.
„Onkel Bilbo! Wo gehst du hin? Darf ich mitkommen? Bitte!“
Bilbo seufzte tief und kniete sich vor den Jungen hin.
„Frodo, ich habe es dir doch schon gestern erklärt.
Ich gehe Pilze sammeln. Die letzten paar Tage war es noch warm
und die Chancen stehen gut, noch welche zu finden. Und zu deiner
zweiten Frage: Nein, ich kann dich nicht mitnehmen, nicht nachdem
du fast zwei Wochen lang krank im Bett gelegen hast.“
Bilbo verspürte sofort Mitleid mit dem jungen Hobbit, als
er sah wie Frodo den Kopf hängen liess. Seit dem Tod von
Frodos Eltern war der Junge bedrückt gewesen und es hatte
lange gedauert, bis Bilbo es geschafft hatte, dem vorhin so fröhlichen
Knaben ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern. Seit dem aber
liess Frodo ihn kaum mehr aus den Augen und folgte ihm überall
hin.
„Aber mir geht’s doch wieder gut!“, protestierte
der junge Hobbit und hüpfte wie zur Bestätigung einige
Male um seinen Onkel herum. Bilbo lachte und schloss Frodo in
seine Arme.
„Ich bin froh, dass es dir wieder gut geht, mein Junge,
aber dieses Wetter ist wirklich nichts für dich. Ich möchte
nicht, dass du wieder krank wirst, du hast mir einen ganz schönen
Schrecken versetzt, als du nicht einmal mehr essen wolltest.“
Frodo grinste verlegen.
„Ach, aber dafür habe ich jetzt umso mehr Hunger. Willst
du nicht bleiben und mir etwas kochen?“
Bilbo konnte gar nicht anders, als Frodo lachend seine dunklen
Locken zu zerzausen und sich immer wieder zu fragen, mit was er
das verdient hatte, diesen aufgeweckten jungen Burschen bei sich
haben zu dürfen.
„Nein, das geht nicht, wirklich nicht. Sieh mal, je eher
du mich gehen lässt, umso schneller bin ich wieder zurück.
Und wenn ich Glück habe, bringe ich einen ganzen Korb voll
Pilze mit und dann wird gekocht.“
Der junge Hobbit schien hin und her gerissen zwischen dem Unwillen,
seinen Onkel gehen zu lassen, und der leckeren Vorstellung eines
Abendessens mit Pilzen. Lächelnd beobachtete Bilbo, wie die
Lust auf Pilze schliesslich Oberhand gewann und Frodo ihn zögernd
los liess.
„Aber versprich mir, dass du dich beeilst!“
„Das verspreche ich dir. Ich werde bei Einbruch der Nacht
wieder hier sein.“
*~*~*
Vier-Uhr-Tee war nahe, als Bilbo endlich an dem Platz ankam,
wo er sich die meisten Pilze zu finden erhoffte. Ein dichter
Wald erhob sich vor ihm aus den hügeligen Wiesen, am Rande
des Auenlandes. Bindbale Wood wurde dieser alte Wald genannt
und lag einige Meilen nördlich von Hobbingen. Etwas weiter
oben gab es nur noch wenige bewohnte Gebiete, hauptsächlich
einige kleine Dörfer. Und gerade wegen seiner Verlassenheit
eignete sich der Bindbale Wood vorzüglich zum Pilze sammeln.
Bilbo summte zufrieden vor sich hin, als er den stillen Wald
betrat. Er konnte es sich zwar im Moment nicht vorstellen, das
Auenland je wieder zu verlassen, aber dennoch genoss er das
vertraute Kribbeln im Bauch, das ihn an alte Zeiten und an Abenteuer
erinnerte. Seufzend und etwas wehmütig dachte er an den
Tag zurück, als Gandalf der Zauberer so unvermutet an seine
Tür geklopft und damit sein Leben so sehr verändert
hatte.
‚Du bist nicht hierher gekommen um dem Vergangenen nachzutrauern‘,
wies der Hobbit sich selbst kopfschüttelnd zurecht. ‚Schaue
lieber dafür, dass du einen ordentlichen Korb voll Pilze
mit nach Hause bringst, sonst ist der kleine Vielfrass enttäuscht.‘
Bilbo ging etwas tiefer in den Wald hinein und fand schon bald,
wonach er suchte. Mit grösster Sorgfalt schnitt er einen
riesigen Steinpilz ab, dessen Stiel er mit einer Hand kaum zu
umfassen vermochte. Ach, und wie er roch! Lächelnd wedelte
Bilbo den Pilz vor seiner Nase hin und her und sog den Duft
tief ein.
Immer weiter folgte er einem schmalen Pfad zwischen den Bäumen
hindurch, sich mal hier bückend und mal dort einige Pilze
pflückend. Er war so vertieft in seine Pilze und in den
Vorstellungen, wie er sie später zubereiten könnte,
dass er weder die gelegentlich vorbeischleichenden schwarzen
Schatten, noch die gelben Augen bemerkte, die jeden seiner Schritte
beobachteten.
Niemand weiss, wie lange das noch so weitergegangen wäre,
hätte Bilbo da nicht plötzlich das Gefühl gehabt,
beobachtet zu werden. Ohne wirklich zu glauben, dass sich etwas
Gefährliches im Unterholz versteckt hielt, schaute er sich
um und blickte direkt in ein paar funkelnde Augen, keine fünfzig
Fuss von ihm entfernt. Der Pilzkorb fiel unbemerkt von Bilbos
Händen und der Hobbit machte einen erschrockenen Schritt
zurück. Gehetzt blickte er sich um und erkannte immer mehr
der leuchtenden Augenpaare im hereinbrechenden Licht der Dämmerung.
Eine der Gestalten wagte sich hervor und Bilbo schnappte erschrocken
nach Luft. Der Körper eines riesigen Warges trat aus dem
Dickicht auf eine kleine Lichtung hinaus. Er war von nachtschwarzer
Farbe und bei den messerartigen Zähnen, die er bei jedem
bedrohlichen Knurren zeigte, lief es dem Hobbit kalt den Rücken
hinunter.
‚Was soll ich nur tun?‘, dachte Bilbo verzweifelt.
‚Wenn ich zu rennen beginne, dann holen sie mich ein,
bevor ich auch nur die Hälfte der Strecke von hier bis
zum Waldrand gelaufen bin. Und klettern...? Immerhin hat mir
das bei diesen Feinden schon einmal geholfen.‘
Gehetzt blickte sich Bilbo um, realisierte aber in diesem Augenblick,
dass er auf einer Lichtung stand. Und dass er umzingelt war.
Es war schwer abzuschätzen, wie viele Warge es waren, denn
ihre Körper waren schwer auszumachen und die einzigen hellen
Punkte, ihre Augen, schienen sich andauernd zu bewegen, zu verschwinden
und dann plötzlich wieder aufzutauchen. Trotzdem wagte
der Hobbit zu schätzen, dass es sich etwa um die fünfzehn
Tiere handelte.
Vage drängte sich ihm noch der Gedanke auf, was Warge denn
überhaupt so nahe beim Auenland zu suchen hatten, dann
wurde das aber sofort nebensächlich, denn die grosse Bestie
vor ihm auf der Lichtung begann sich in seine Richtung zu bewegen.
Zuerst trottete der Warg nur langsam und vorsichtig auf ihn
zu, und danach immer schneller.
Reflexartig schoss Bilbos Hand zu seinem Gürtel, wo vor
beinahe vierzig Jahren zum ersten Mal Stich gehangen hatte.
Nun aber fehlte das vertraute Gewicht.
‚Wer nimmt auch ein Schwert mit zum Pilze sammeln im Auenland???‘
So konnte er nicht viel mehr tun als gelähmt mit ansehen,
wie der Tod sich ihm näherte.
‚Ach Frodo, es tut mir leid, dass ich nicht länger
für dich da sein konnte, du hast...‘
Doch Bilbo hatte keine Zeit, den Gedanken zu Ende zu denken.
Auf einmal gab der riesige Warg ein qualvolles Jaulen von sich,
stolperte und fiel zu Boden, keine zehn Fuss von Bilbo entfernt.
Ein Pfeil steckte in seiner Seite.
Unruhe kam unter den Wargen auf und das Geknurre wurde lauter.
Anstatt vor dem Schicksal ihres Anführers eingeschüchtert
zu sein, bündelte sich die Wut der Bestien und sie brachen
alle auf einmal los. Wieder flogen Pfeile, kurz hintereinander
und keiner verfehlte sein Ziel. Die Meute hetzte von überall
her auf die Lichtung und zu Bilbos Entsetzen waren es noch mehr,
als er zuerst vermutet hatte. Aber sie liefen nicht mehr länger
in seine Richtung, sondern sie hatten sich ein neues Opfer ausgesucht.
Zu Bilbos Rechten stand ein Mann, gross und aufrecht. Die Farbe
seiner Kleidung schwankte irgendwo zwischen braun und dunkelgrün
und er hielt einen Bogen in seiner Hand. Die Kapuze war tief
in sein Gesicht gezogen, aber dennoch glaubte Bilbo, einige
Strähnen dunklen Haares erblickt zu haben.
Mitten in seiner Beobachtung hörte der Hobbit auf einmal
ein verräterisches Knacken neben sich und warf sich instinktiv
zu Boden. Ein grosser Schatten flog über ihn hinweg und
landete etwas weiter im Gebüsch. Sofort war sich Bilbo
seiner Umgebung wieder bewusst und zu seiner Verteidigung nahm
er das Pilzmesser zur Hand. Es war eine erbärmliche Waffe
gegen diesen übermächtigen Feind, aber es war immer
noch besser als gar nichts. Und ausserdem konzentrierte sich
der grösste Teil des Angriffes auf den Menschen. Er war
in einen heftigen Kampf mit mindestens fünf Wargen verwickelt,
die ihn alle gleichzeitig anzugreifen versuchten. Die Übermacht
war gross und Bilbo hatte seine kurz aufgelebte Hoffnung schon
fast wieder aufgegeben, bis plötzlich ein metallenes Geräusch
erklang, als der Mann sein bis dahin verborgenes Schwert zog.
Die Wargen schienen für einen Moment verwirrt und der Mann
nutzte das sofort aus. Drei der Bestien gingen gleichzeitig
unter seinen kraftvollen Hieben zu Boden, während sich
die andern etwas zurückzogen. Doch es blieb ihm nur kurze
Zeit zum Ausruhen, denn die Warge hatten sich bereits wieder
zu einer Meute gesammelt und umschlichen den Menschen lauernd.
Bilbo hatte sich in der Zwischenzeit zwei der üblen Kreaturen
entledigen können und rang mit einer Dritten. Es war ein
harter Kampf und der Hobbit bekam die Zähne des Warges
einige Male zu spüren, wenn auch nur oberflächlich.
Er hob das Messer und wollte es dem Warg in die Brust stossen,
aber die Bestie war schneller. Sie wich aus und sank ihre Zähne
gleichzeitig tief in Bilbos Unterarm. Bilbo schrie auf und versuchte
vergeblich, seinen Arm frei zu bekommen. Das Messer fiel zu
Boden und bevor er überhaupt wusste, was er tat, griff
er mit der Linken nach der Waffe und stiess mit aller Kraft
zu. Ein hässliches Gurgeln ertönte, als Bilbo das
Messer aus der Kehle des Warges herauszog, und beide fielen
zu Boden.
Der Warg war tot, aber der Arm des Hobbits war noch immer zwischen
dem mächtigen Kiefer gefangen. Mit zusammengebissenen Zähnen
befreite Bilbo seinen Arm und kämpfte sich unter dem leblosen
Körper hervor. Wütendes Geknurre war zu hören
und der Hobbit ruckte seinen Kopf herum um zu sehen, wie es
um den Kampf insgesamt stand.
Der Mann schwang noch immer seine Klinge gegen die aufgebrachte
Meute, aber auch er war vom Kampf gekennzeichnet. Er blutete
aus zahlreichen Wunden und seine vorhin beinahe eleganten Schläge
hatten zunehmend an Kraft verloren. Und die Warge schienen noch
immer von überall her auf die Lichtung zu strömen.
Die toten Körper ihrer Gefährten, die sich wie eine
Mauer rund um den Mann türmten, schienen sie keineswegs
zu stören.
Dann kam der Augenblick, als der Mann einen Fehler beging und
seine Deckung für einen Moment niederliess, um einem Angriff
von hinten auszuweichen. Das war genug und ein besonders grosser
Warg riss den Mann mit einem Sprung zu Boden. Augenblicklich
stürzten sich auch die anderen auf den Gefallenen.
Bilbo drehte den Kopf weg. Jetzt hätte er vielleicht noch
eine Chance gehabt, wegzulaufen während die Warge noch
mit dem Mann beschäftigt waren, aber er war erschöpft
vom Kampf und bezweifelte, dass er weit kommen würde.
Ein gequältes Heulen erklang, das schlagartig wieder abbrach.
Bilbo schaute auf und sah, dass sich der Mann wieder aufgerichtet
hatte und dass er die Warge von Neuem bekämpfte.
‚Wie kommt es, dass er so lange durchhalten kann?‘,
fragte sich der Hobbit ungläubig.
Die Schläge kamen plötzlich schneller, präziser
und mit neuer, zorniger Kraft, so dass sich die Warge nach und
nach zurückzogen. Die letzte der zurückgebliebenen
Bestien lag erschlagen auf dem Boden und endlich kam die Klinge
zur Ruhe. Und damit schien der Bann gebrochen zu sein. Die Warge
flüchteten und der Mann lehnte sich sichtlich erschöpft
gegen den Stamm eines Baumes.
Stille kehrte wieder in den Wald zurück und Bilbo getraute
sich kaum zu atmen. Er war dem Schicksal entronnen und er wusste
genau, wem er dafür zu danken hatte. Zögernd näherte
er sich dem Mann.
Die Kapuze war während des Kampfes heruntergerutscht und
ein kantiges und strenges Gesicht kam zum Vorschein. Zusammen
mit den zottigen dunklen Haaren gab das dem Mann ein düsteres,
beinahe bedrohliches Aussehen. Scharfe graue Augen verfolgten
jeden einzelnen Schritt des Hobbits, während er das Schwert
mit einiger Mühe in der Scheide verschwinden liess.
Jetzt von nahem sah Bilbo, dass der andere schlechter weggekommen
war als er selbst. Der Umhang an der linken Schulter war zerrissen
und Blut floss noch immer frei von der offenen Wunde. Auch das
rechte Bein sah schlimm aus. Oberhalb des Knies zierte eine
riesige Bisswunde den Oberschenkel und auch der Rest seines
Körpers schien er nur so von Kratzern und Bissen übersät
zu sein.
‚Aber da sehe ich wohl auch nicht viel besser aus“,
dachte Bilbo bei sich und verzog das Gesicht, als sich all die
kleinen Blessuren auf einmal bemerkbar machten. Nun da der Kampf
vorbei war, hatte er das Gefühl, dass kein Fleck an seinem
ganzen Körper heil geblieben war.
Der Mann musterte ihn unterdessen still und genau. Es dauerte
eine ganze Weile, bis er endlich sprach.
„Ich würde gerne wissen, was ein Halbling um diese
Zeit alleine hier draussen im Wald tut. Das Auenlandvolk traut
sich sonst so gut wie nie vor die Türe, aber ausgerechnet
heute und hier musste es sein. Sag, Halbling, wie ist dein Name?“
Bilbo hörte trotz der tadelnden Worte keinen Ärger
aus der Stimme des Mannes heraus. Es überraschte ihn, wie
gebildet und beinahe sanft er sprach. Er hätte nicht gedacht,
dass hinter der rauen Erscheinung des Mannes eine solche Stimme
stecken würde.
„Bilbo Beutlin ist mein Name und ich war auf der Suche
nach Pilzen für das Abendessen.“
Ein merkwürdiger Ausdruck flog über das Gesicht des
Mannes bei der Erwähnung von Bilbos Namen, verschwand aber
sogleich wieder und seine Miene verriet nichts über das
was er dachte.
„Pilze?“, fragte der Mann ungläubig und zum
ersten Mal zeigte sich der Anflug eines Lächelns auf seinen
Lippen. Die Veränderung, die es ausmachte, war nicht zu
übersehen. Die strenge Miene verschwand und an seiner Stelle
trat ein amüsiertes Glitzern in die grauen Augen. Seine
ganze Haltung entspannte sich und auch der Rest von Bilbos von
Unsicherheit gegenüber diesem Mann hatte sich in Luft aufgelöst.
„Ja, nach Pilzen und genau hier wachsen sie am besten“,
antwortete der Hobbit bestimmt und musterte sein Gegenüber
noch einmal genau. Auf einmal schien es ihm, als wäre er
dem Mann schon einmal begegnet, nur konnte er im Moment nicht
sagen wann und wo.
„Nun erlaube mir deine Frage an dich zurückzugeben.
Wer bist du?“
Der Mann schwieg einen Augenblick, liess Bilbo dabei aber nicht
aus den Augen.
„Man nennt mich Streicher.“
Bilbo hob eine Augenbraue. Er war nicht zufrieden mit dieser
Antwort und er würde nicht so schnell locker lassen.
„Nein, wie ist dein richtiger Name?“
Der Mann, der sich als Streicher vorgestellt hatte, schoss dem
Hobbit einen amüsierten Blick zu.
„Dieser Name wird für den Moment reichen müssen,
auch wenn er dir nicht passt. Es wird schnell dunkel und es
wäre an der Zeit für dich, in deine Höhle zurückzukehren.“
Eindringlich fügte Streicher hinzu: „Es ist nicht
mehr sicher hier.“
Damit stiess er sich von dem Baum ab, an den er sich gelehnt
hatte, und lief mit einem sichtbaren Hinken quer über die
Lichtung auf den Korb zu, den Bilbo fallen gelassen hatte. Wortlos
hob er ihn auf und brachte ihn dem Hobbit zurück.
„Geh jetzt, Bilbo. Hier mag es nicht mehr sicher sein,
aber in Hobbingen bist du gut aufgehoben. Dafür werde ich
sorgen.“
Bilbo klappte der Kiefer herunter.
„Woher weißt du wo ich wohne? Und was meinst du
mit ‚nicht mehr sicher‘?“
Streicher seufzte und liess seinen Blick über die nahen
Büsche und Bäume wandern.
„Die Gefahr ist noch nicht gebannt, bei Dunkelheit werden
sie mutiger. Es ist kein Zufall, dass die Warge sich so nahe
ans Auenland heranwagen. Einzig und allein die Anzahl dieser
Kreaturen hat mich überrascht. Es ist noch schlimmer als
ich befürchtet habe.“
Streicher hielt kurz inne und sein Blick schweifte nach Osten,
die Augenbrauen zornig zusammengekniffen. Der Himmel dort drüben
war dunkel, die Wolken hatten sich zusammengeballt, als ob ein
Unwetter drohte. Ein eisiger Wind wehte durch den Wald.
Streicher schien sich plötzlich wieder aus seiner düsteren
Stimmung herauszuschütteln und er wandte seinen Blick zurück
auf Bilbo.
„Ich werde dich noch bis zum Waldrand begleiten.“
Bilbo versuchte vergeblich, dem ganzen einen Sinn zu geben während
er Streicher in der hereinbrechenden Dämmerung durch den
Wald folgte.
‚Was hat es mit diesem Streicher auf sich? Wer ist er
und weshalb weiss er so gut über mich Bescheid? Von was
redet er eigentlich? Und was macht er überhaupt hier?‘
Die letzte Frage plagte ihn schliesslich so stark, dass er sie
laut aussprach. Streicher verlangsamte das Tempo ein wenig,
so dass er auf gleicher Höhe mit dem Hobbit ging.
„Ich gehöre zu den Waldläufern. Seit jeher gehörte
es zu unseren Aufgaben, die Bewohner von Mittelerde zu schützen.
Wir wissen, dass seit einiger Zeit die Dunkelheit und das Böse
im Osten eine immer bedrohlichere Gestalt annimmt und dass Sauron
seine Fühler immer weiter ausstreckt. Das Auenland ist
gefährdet und seine Einwohner wissen nichts von dem Krieg,
der uns allen bevorsteht. Wenn alles gut geht wird es auch nie
nötig sein, dass sie etwas davon erfahren, denn auch das
gehört auch zu unseren Aufgaben. Kämpfen, ohne je
auf Ruhm, Erholung oder Glück zu hoffen.“
Streicher schwieg und Bitterkeit verhärtete seine Züge.
Bilbo aber war viel zu aufgewühlt von der Nachricht der
bevorstehenden Gefahr, als dass er die Veränderung des
Waldläufers bemerkte. Krieg hatte er gesagt. Krieg hier
in Mittelerde, wer weiss, vielleicht sogar im Auenland. Wie
kam es dazu, dass er, Bilbo Beutlin, in all den Jahren seit
seiner Rückkehr nie etwas davon gehört hatte?
‚In der Art und Weise in der ich lebte ging es mir gut.
Die Aussenwelt kommt einem so unwirklich vor, wenn man zu Hause
in einem warmen Sessel vor dem Feuer sitzt. Ich schätze,
dass es mich nie genug interessiert hat, mich mehr darüber
zu informieren. Selbst Gandalfs gelegentliche Besuche und seine
Berichte von Gondor, Rohan und vom Düsterwald kamen mir
eher wie ferne Geschichten vor.‘
Bilbo war noch immer so mit sich selbst beschäftigt, dass
er nicht merkte, dass sie mittlerweile am Waldrand angekommen
waren und dass Streicher neben ihm stehen blieb. Erst als die
letzten Strahlen der untergehenden Sonne zwischen dicken Wolken
hindurch sein Gesicht berührten, merkte er, dass er nicht
länger im dunklen Wald stand und dass der Waldläufer
nicht mehr an seiner Seite war. Verdutzt blickte er sich nach
Streicher um und erstarrte.
Streicher hatte sein Gesicht nach Westen gewandt, der untergehenden
Sonne entgegen. Der Wind spielte in seinen dunklen Strähnen
und er hätte ein Bild des vollkommenen Friedens abgegeben,
wenn da nicht dieser Gesichtsausdruck gewesen wäre. Er
hatte die Augen geschlossen und es zeichnete sich eine Müdigkeit
auf seinem Gesicht ab, die nicht nur vom vergangenen Kampf herrührte.
Seine Schultern hingen schlaff und er trug den Kopf etwas gesenkt.
Ein bitterer Zug umrahmte seinen Mund und es schien, als ob
er tief drinnen mit sich selber rang.
Bilbo wusste nicht, was so plötzlich über seinen Begleiter
hergefallen war und er war sich nicht sicher darüber, was
er tun sollte.
‚Er hat mich gerettet, also ist das Mindeste, was ich
für ihn tun kann, ihn zu mir mit nach Hause nehmen und
für seine Wunden sorgen. Er sieht aus, als ob er das dringend
nötig hätte.‘
Mit wenigen Schritten war er an Streichers Seite und berührte
ihn vorsichtig am Arm. Der Waldläufer zuckte heftig zusammen,
die Hand sofort am Griff seines Schwertes.
„Ruhig, mein Freund! Ich wollte dich nicht erschrecken.
Du sahst plötzlich aus, als ob dich deine Beine nicht mehr
tragen würden.“
Streicher blickte sich noch einmal wild um, wandte sich aber
dann zu Bilbo um.
„Mir geht es gut“, sagte er mit gezwungen ruhiger
Stimme, aus der Bilbo ein leichtes Zittern heraushörte.
„Ich war bloss in Gedanken.“
Bilbo schaute den Waldläufer skeptisch an. Eine plötzliche
Blässe stahl sich auf dessen strenges Gesicht und die Hand,
welche noch immer auf dem Schwertgriff ruhte, zitterte stärker.
Als der andere schwankte, fasste Bilbo ihn am Arm, obwohl er
wusste, dass er den viel grösseren Mann nicht würde
stützen können, falls er fiel.
Aber so schnell der Anfall gekommen war, verschwand er auch
wieder. Streicher schloss die Augen und als er sie wieder öffnete,
hatte er sich erneut im Griff. Sanft entwand er Bilbo seinen
Arm und atmete tief ein.
„Mir geht es gut, Bilbo, wirklich“, bekräftigte
Streicher bestimmt. Dieses Mal klang es zwar überzeugend,
aber der Hobbit glaubte dem Mann noch immer nicht ganz. Dafür
wurde er sich immer sicherer in seinem Vorhaben, Streicher zu
sich nach Hause einzuladen.
„Ich bin dir zu Dank verpflichtet“, begann Bilbo.
„Ohne deine Hilfe hätte ich diesen Abend nicht überlebt.
Deshalb bitte ich dich, komm mit mir! In Beutelsend kann ich
mich um deine Wunden kümmern und du kannst dich erholen.
Es ist nicht weit von hier entfernt, etwa zwei Stunden.“
Doch Streicher schüttelte bereits den Kopf bevor Bilbo
überhaupt zu Ende gesprochen hatte.
„Nein, ich kann nicht mit dir kommen, ich habe hier meine
Aufgabe auszuführen. Stell dir einmal vor, diese ganze
Meute von Wargen wäre über das Auenland hergefallen.
Denn dazu wäre es bestimmt gekommen, wären wir nicht
vorher auf sie gestossen. Nein, Bilbo, so gerne ich dein Angebot
auch annehmen würde, ich kann nicht.“
Dieses Mal entging Bilbo der bittere und verzweifelte Blick
des Mannes nicht und er redete eindringlich auf ihn ein.
„Ach was, jetzt sind sie ja weg! Du hast mehr als die
Hälfte dieser Biester getötet, die werden so schnell
nicht wiederkommen.“
„Ich kann nicht“, sagte Streicher leise.
Bilbo wollte gerade noch einmal das Argument mit den Verletzungen
mit einbringen, als hinter ihnen im Wald ein leises Rascheln
erklang. Streicher wirbelte herum, das Schwert bereits in der
Hand.
Das Zwitschern eines Vogels war aus einem nahen Gebüsch
zu hören und Streicher seufzte erleichtert und steckte
sein Schwert in die Scheide zurück. Einen Moment später
traten zwei Männer hinter den Büschen hervor, beide
gross und dunkelhaarig. Sie waren ähnlich wie Streicher
gekleidet und auch sie trugen Waffen bei sich.
„Seid gegrüsst!“, rief einer der beiden Männer.
Er hatte wie Streicher ein markantes Gesicht, jedoch nicht ganz
so kantig. Als er den Waldläufer und den Hobbit zusammen
sah, blitzte es in seinen blauen Augen amüsiert auf. Er
wirkte noch jung, etwa dreissig Jahre alt, nicht so wie Streicher,
dessen Alter schwer einzuschätzen war da er in Bilbos Augen
etwas Altersloses an sich hatte.
„Mae govannen, Halbarad“, antwortete Streicher und
nicht zum ersten Mal an diesem Tag blieb Bilbo nichts anderes
übrig, als den Mann mit offenem Mund anzustarren. Seit
seinem Abenteuer mit dem Drachen hatte er Einiges an Elbisch
aufgeschnappt und er war mehr als nur erstaunt, die elbische
Begrüssungsformel so mühelos von Streichers Mund zu
hören.
Der Mann, welcher als Halbarad angesprochen wurde, kam näher
und sein jüngerer Begleiter folgte ihm. Halbarad trug ein
Lächeln auf dem Gesicht, welches aber sofort verschwand,
als er die zerrissenen Kleider der beiden und das Blut darauf
sah.
„Bei Elbereth, was ist passiert???“
Streicher seufzte.
„Wir wurden von Wargen angegriffen. Oder besser gesagt,
dieser Hobbit hier - Bilbo Beutlin ist sein Name – ist
auf eine ganze Meute gestossen und ich konnte das Schlimmste
gerade noch verhindern. Es waren viele, Halbarad, und sie waren
stark.“
Der andere Waldläufer betrachtete ihn von oben bis unten
und bemerkte dann trocken: „Das sieht man!“
Streicher schoss ihm einen etwas genervten Blick zu, ging aber
nicht weiter auf den Kommentar ein.
„Wir müssen die Wachen verstärken. Es sind zu
viele für einen einzelnen Mann, ich habe das beinahe zu
spüren bekommen. Sie hatten mich bereits unten und es hätte
nicht viel gefehlt und ich wäre jetzt ihre Beute. Zusammen
mit dem Halbling.“
Halbarads Gesicht nahm einen besorgten Zug an.
„Ich darf gar nicht daran denken, was dann alles passiert
wäre. Unsere Hoffnung wäre verloren gewesen.“
Streicher fuhr sich mit der einen Hand müde über die
Augen.
„Noch nicht, mellon nîn. Es ist noch alles gut gegangen.
Ich werde heute Nacht bei euch bleiben und morgen mache ich
mich auf den Weg zum Hauptlager. Ich werde euch mehr Leute schicken,
danach kehre ich wieder hierher zurück.“
Der Ausdruck auf Halbarads Gesicht sagte deutlich, dass er nicht
viel davon hielt, dass sich Streicher in seinem angeschlagenen
Zustand auf eine solche Reise begab.
„Ich finde das keine so gute Idee. Ich kann Erador hier
schicken, er ist zuverlässig und schnell.“
Der junge Mann an Halbarads Seite errötete, neigte jedoch
leicht seinen Kopf. Streicher aber schüttelte schon wieder
den Kopf.
„Es ist gefährlich dort draussen, ausserdem will
ich die Männer persönlich auswählen, die für
diese Aufgabe geeignet sind. Ich werde selbst gehen.“
„Aber wäre es nicht besser wenn...“
„Nein“, unterbrach Streicher den anderen Mann harsch.
„Ich bin noch immer dein Hauptmann und du scheinst das
gerade zu vergessen. Es steht viel auf dem Spiel und ich habe
keine Lust, alles zu verlieren, was wir uns mühsam erarbeitet
haben, nur weil du dir Sorgen über meine Gesundheit machst.“
Bilbo las in Halbarads besorgten Augen deutlich: ‚Ich
mache mir um DICH Sorgen, nicht unbedingt um deine Gesundheit.‘
Der jüngere Waldläufer aber schwieg, obwohl es noch
immer trotzig in seinen Augen flackerte. Der Ausgang der Diskussion
schien ihm überhaupt nicht zu passen, dennoch unterwarf
er sich Streichers Entscheidung.
„Meine Herren, ich habe dazu auch noch etwas zu sagen“,
mischte sich Bilbo ein, der dem Gespräch bis jetzt aufmerksam,
aber stillschweigend gefolgt war. Halbarad schaute den Hobbit
an, als ob dieser gerade aus dem Boden gewachsen wäre,
nickte aber dann, dass er fortfahren solle.
„Als Zeichen meines Dankes würde ich den Herrn Streicher
gerne zu mir nach Hause einladen, Beutelsend liegt nur etwa
zwei Stunden von hier entfernt. Es steht sowohl eine warme Bleibe,
ein Bett wie auch ein gutes Abendessen bereit. Das ist das Mindeste,
was ich tun kann.“
Einen Augenblick lang herrschte Stille und der Anflug eines
Lächelns schlich sich auf Halbarads Lippen, als er von
so unerwarteter Seite Hilfe bekam. Streicher aber runzelte noch
immer die Stirn und sah wenig überzeugt aus. Bevor der
Waldläufer jedoch ablehnen konnte, änderte Bilbo seine
Taktik und fuhr betont ängstlich fort.
„Ausserdem getraue ich mich fast nicht mehr nach Hause.
Diese Biester sind in alle Richtungen davongerannt, wer weiss,
ob sich nicht vielleicht einer hier im Auenland verkrochen hat?
Ich habe fast das Gefühl, sie seien hierhin geflohen...
Und dann habe ich keine Ahnung, wie ich diese Verletzung hier“,
Bilbo hielt seinen noch immer blutenden Arm hoch, „alleine
versorgen soll. Die wird sich bestimmt infizieren.“
„Es ist ja nur für eine Nacht“, redete Halbarad
auf seinen Hauptmann ein, als er sah wie dessen Widerstand langsam
abbröckelte.
Streicher seufzte geschlagen. Wer konnte sich schon gegen eine
solche Übermacht wehren?
„Also gut, Bilbo, ich werde mit dir kommen. Aber wie Halbarad
bereits angetönt hat, wird es bei dieser einen Nacht bleiben
und ich werde mich morgen bereits wieder auf den Weg machen.“
Der Hobbit lächelte und schaute kurz zu Halbarad, der ihm
verstohlen zuzwinkerte. Streicher bemerkte den Blick.
„Euch zwei lasse ich so schnell nicht mehr zusammen.“
Mit diesen Worten drehte er sich um und hinkte Richtung Hobbingen.
Bilbo verabschiedete sich hastig von den zwei Waldläufern
und fiel dann in Laufschritt, um Streicher einzuholen.
Halbarad blieb noch eine Weile auf dem kleinen Hügel stehen
und schaute den beiden nach, bis sie hinter einem hohen Maisfeld
verschwunden waren. Dann drehte er sich mit einem Seufzen zu
Erador um, ein besorgter Ausdruck auf dem Gesicht tragend.
Der jüngere Waldläufer fragte etwas verwirrt: „Was
bedrückt dich, Halbarad? Und weshalb wolltest du unbedingt,
dass Aragorn mit dem Halbling geht?“
Halbarad schaute nachdenklich zu Boden.
„Aragorn hat sich verändert. Ich erkenne ihn kaum
mehr wieder, seit er vor sechs Jahren aus dem Dienst von Rohan
zurückgekehrt ist, um kurz darauf wieder in Gondor in den
Dienst zu treten. Es waren nicht seine ersten Jahre im Krieg,
aber dennoch hatten sie grossen Einfluss auf ihn. Wenn ich Aragorn
nicht besser kennen würde, dann würde ich behaupten,
dass er sein Ziel aus den Augen verloren hat.“
Halbarads Blick schweifte wieder in die Richtung zurück,
in die der Hobbit und der Waldläufer verschwunden waren.
„Ich hoffe, dass ihm vielleicht die kurze Zeit abseits
des Krieges helfen wird, sich wieder etwas zu fassen. Dieser
Halbling ist weiser als ich dachte, obwohl mich Gandalf ja vorgewarnt
hat. Vielleicht kann er Aragorn zeigen, was alles Wunderbares
zerstört werden würde, wenn er aufhört, an sich
selbst zu glauben.“
*~*~*
Aragorns Schritte wurden schwerer, je näher sie Hobbingen
kamen. Das Hinken wurde deutlicher und Aragorn musste sich selbst
eingestehen, dass er am Ende seiner Kräfte war.
‚Es ist vielleicht doch besser, dass ich mit dem Halbling
mitgegangen bin‘, dachte der Waldläufer für
sich und schaute müde zu seinem Gefährten hinüber.
Auch Bilbo liess seine Schultern hängen und das anfänglich
fröhliche Geschnatter des Halblings über Pilze und
das Auenland war schon bald verstummt. Aragorn sah, dass er
den rechten Arm eng an seinen Bauch gepresst hielt und dass
er blass geworden war.
‚Hoffentlich ist es nicht mehr weit!‘
Aragorns Wunsch wurde schon bald erfüllt, als er die ersten
kleinen Höhlen zwischen den Hügeln auftauchen sah.
Es war mittlerweile stockdunkel geworden und in vielen der winzigen
Häuschen brannte ein warmes Licht.
Aragorn seufzte und zog seinen Umhang enger um sich, obwohl
ihn das nur wenig vor der beissenden Kälte schützte.
Der Wind hatte an Stärke zugenommen und beide Gefährten
waren bis auf die Knochen durchgefroren.
„Diesen Weg entlang“, hörte Aragorn Bilbo sagen
und der Halbling drehte nach links ab. Ein schmaler Weg führte
auf eine Anhöhe hinauf bis zu einer gemütlich aussehenden
Höhle. Im Garten vor dem Häuschen wuchsen viele Pflanzen,
sowohl Blumen, wie auch Gemüse und herrlich duftende Kräuter.
„Willkommen in Beutelsend.“
Bilbo öffnete das Gartentor und Aragorn trat an ihm vorbei
in den Garten. Erst jetzt fiel ihm auf, dass Licht durch die
kleinen Fenster und auf das Gemüsebeet davor fiel.
„Du wohnst nicht alleine?“, fragte Aragorn erstaunt.
Gandalf hatte ihm erzählt, dass Bilbo ein ausgesprochener
Einsiedler war und noch nie auch nur einen Gedanken an Ehe und
Kinder verschwendet hatte.
„Nein, nicht mehr“, antwortete Bilbo und ein warmes
Lächeln schlich sich auf seine Lippen. „Vor einem
halben Jahr kamen die Eltern meines Neffen bei einem Bootsunfall
ums Leben und ich habe ihn zu mir genommen. Frodo ist sein Name.
Er ist ein wundervolles Kind, obwohl er erst zwölf Jahre
alt ist. Eines Tages wird er zum Erben von Beutelsend, wenn
ich nicht mehr da bin.“
Aragorn hörte die Zuneigung zu dem Jungen deutlich aus
Bilbos Stimme heraus und war auf einmal gespannt darauf, ihn
kennen zu lernen. Bilbo ging voraus, öffnete die Türe
und trat ein. Aragorn folgte ihm, musste sich aber weit hinunter
bücken, um sich nicht den Kopf zu stossen.
„Frodo, ich bin wieder da!“
Ein kleiner Junge, den Aragorn jünger als zwölf geschätzt
hätte, kam um die Ecke gesaust und warf sich Bilbo in die
Arme. Der kleine Halbling hatte zwar sein Gesicht in Bilbos
Umhang versteckt, aber die heftig sich hebenden und senkenden
Schultern verrieten Aragorn, dass er weinte.
„Was ist denn, Frodo, mein Junge?“, fragte Bilbo
bestürzt und drückte seinen Neffen enger an sich.
„Ich... ich dachte... dass du... vielleicht... nie mehr...
zurückkommen... würdest“, brach es undeutlich
und zwischen Schluchzern hervor.
Erkenntnis zeigte sich auf Bilbos Gesicht, als er sich an sein
Versprechen erinnerte.
~~ „Aber versprich mir, dass du dich beeilst!“
„Das verspreche ich dir. Ich werde bei Einbruch der Nacht
wieder hier sein.“ ~~
Es war jetzt weit nach Einbruch der Dämmerung und Frodo
war all die Zeit mit der Ungewissheit geblieben, was mit seinem
Onkel geschehen war. Die Erinnerung an den Tod seiner Eltern
war noch zu nah für ihn.
„Oh Frodo, es tut mir leid! Ich bin ja jetzt hier und
es geht mir gut. Wir wurden aufgehalten und konnten nicht eher
kommen.“
„Wir?“, piepste Frodo und hob den Kopf ein wenig.
Seine Augen wurden gross, als er den hochgewachsenen Menschen
bemerkte, der still schweigend neben Bilbo stand. Obwohl Aragorn
noch immer etwas gebückt dastand, musste er einen gewaltigen
Eindruck auf den jungen Halbling machen, denn dieser versteckte
sich sogleich wieder in Bilbos Umhang.
„Nicht doch, Frodo“, sagte sein Onkel beruhigend.
„Streicher hier hat mir das Leben gerettet, du brauchst
dich nicht vor ihm zu fürchten. Ohne ihn wäre die
Sache böse ausgegangen. Ich habe ihn eingeladen und ich
erwarte, dass du ihn freundlich behandelst.“
Frodo löste sich von Bilbo und stellte sich noch immer
etwas eingeschüchtert vor Aragorn hin. Dann tat er etwas,
das den Waldläufer ziemlich erstaunte: Er verbeugte sich
vor ihm.
„Wenn das so ist, seid Ihr natürlich herzlich willkommen.“
Aragorn lächelte, als er sah, wie der junge Halbling zögernd
auf ihn zukam und ihm dann sein Bündel und seinen Umhang
abnahm.
„Ich danke dir, Frodo“, sagte Aragorn und bemühte
sich, seiner Stimme einen beruhigenden Klang zu geben. Er stellte
jedoch fest, dass sie vor Erschöpfung rauer als sonst tönte.
Frodo aber, der seinen ersten Schreck überwunden hatte,
schien sich nicht daran zu stören.
„Ui, bist du aber gross!“, kommentierte er unverblümt
und verrenkte sich den Hals, um Aragorn ins Gesicht sehen zu
können. Etwas in Aragorn löste sich und er fühlte
ein Lachen in sich aufsteigen.
„Tja, ich habe das bisher als normal angesehen. Ihr Halblinge
seid alle so klein“, meinte er belustigt.
„Halblinge?“, fragte Frodo empört. „Wir
sind doch keine Halblinge! Wir sind Hobbits.“
Aragorn lächelte. Er mochte den kleinen ‚Hobbit‘
schon jetzt.
„Ah und wieder habe ich etwas dazugelernt. Den Namen habe
ich vorher noch nie gehört, aber wenn du darauf bestehst,
seid ihr von jetzt an natürlich Hobbits.“
Frodo nickte, offensichtlich zufrieden mit sich selbst, das
mit dem Namen klargestellt zu haben. Auf einmal blieb sein Blick
an der tiefen Wunde am Bein des Waldläufers hängen,
welche sich nur wenig unterhalb seiner Augenhöhe befand.
„Du bist ja verletzt!“, rief er erschrocken. Sofort
nahm er Aragorn an der Hand und drückte ihn auf das nächste
Sofa. Das Sofa knirschte bedenklich unter Aragorns Gewicht,
hielt aber stand.
„Mach dir um mich keine Sorgen. Dein Onkel Bilbo schien
so schwer verletzt zu sein, dass er bereits Bedenken hatte,
ob er es noch bis nach Hause schaffen würde. Merkwürdigerweise
merke ich im Moment nicht viel davon.“
Dabei blickte er Bilbo anklagend an, der sich vor das Feuer
hingekniet hatte und Holz hinein warf. Bilbo drehte sich halb
herum und lächelte bloss.
„Ich komme gleich. Ich wäre wirklich froh wenn du
dir meinen Arm ansehen könntest, die Wunde brennt wie Feuer.“
Aragorn nickte.
„Ja, das kann ich tun. Nur bin ich im Moment etwas knapp
an Reserve von Heilkräutern, ich hatte einfach noch keine
Zeit, meinen Bestand zu erneuern. Und einige saubere Bandagen
wären auch nicht schlecht.“
„Frodo, könntest du bitte...“
Der kleine Hobbit sauste bereits davon, um das Gewünschte
zu holen. Bilbo stand auf und kam lächelnd zu dem Waldläufer
hinüber.
„Siehst du jetzt, was ich meine? Er ist ein so wundervoller
Junge, ich kann mir gar nicht vorstellen, dass es einmal eine
Zeit gab, wo er nicht andauernd um mich herum war. Ein Kind
bringt soviel Leben in diese Höhle.“
In diesem Moment kam Frodo zurück und brachte den Beutel
mit den Kräutern und Verbandszeug zusammen mit einer Schüssel
Wasser und einem Lappen zu Aragorn. Dieser schaute sich die
Kräuter einzeln an und komplimentierte Bilbo in Gedanken
für die Qualität und Reichhaltigkeit der Heilkräuter.
Er wählte einige davon aus, von denen er wusste, dass sie
sowohl desinfizierend wie auch schmerzlindernd wirkten.
„Streck deinen Arm aus, Bilbo.“
Der Hobbit tat wie ihm geheissen wurde und Aragorn legte sorgfältig
die Bisswunde frei. Sie war ziemlich tief und es war Schmutz
hineingeraten. Der Waldläufer wusste, dass Wargenbisse
sich schnell entzündeten und war auf einmal trotz allem
froh, dass er mit Bilbo mitgegangen war. Würde eine solche
Wunde nicht genügend Aufmerksamkeit erhalten, könnte
sie rasch zu einer ernst zu nehmenden Gefahr werden.
Rasch und geübt wusch er die Wunde aus, dann griff er nach
den Kräutern, zerrieb sie und strich sie zusammen mit einer
Salbe aus seinem Gepäck auf die Bisswunde. Obwohl Aragorn
nicht im mindesten grob mit seinem Patienten umging, musste
sich Bilbo doch einige Male einen Aufschrei verbeissen. Er atmete
erleichtert aus, als der Waldläufer schliesslich den Arm
verband und die Bandage befestigte.
„So, jetzt bist du dran, mein Freund“, sagte Bilbo
mit einer etwas heiseren Stimme.
Aragorn wusste, dass es nichts brachte, wenn er es hinauszögern
würde, deshalb nickte er bloss. Bereits als Bilbo das viele
Blut auf der dunklen Hose bemerkte, vermutete er, dass die Verletzungen
des Waldläufers weitaus schwerer waren als er bis jetzt
vermutet hatte. Als er aber dann die Wunde von nahem sah, stockte
ihm der Atem. Der kräftige Kiefer eines Warges hatte so
tiefe Bissspuren hinterlassen, dass der Hobbit neben all dem
Blut das Weiss des Knochens sehen konnte. Das Muskelgewebe war
gut durchblutet und so war die Blutung noch immer nicht ganz
zum Stillstand gekommen. Bilbo wunderte sich, wie Streicher
es überhaupt geschafft hatte, sich bis jetzt auf den Beinen
zu halten.
Weitaus weniger geübt, jedoch genauso zielsicher machte
der Hobbit sich an die Arbeit. Nachdem er die Wunde ausgewaschen
hatte und die bereitgelegten Kräuter aufgetragen hatte,
bestand Streicher darauf, dass Bilbo die Wunde nähte. Der
arme Hobbit hatte so etwas noch nie zuvor getan und ihm war
es ein Gräuel, in das Fleisch eines Mannes zu stechen.
„Es ist in Ordnung, Bilbo, wirklich. Ich habe schon Schlimmeres
überlebt“, meinte Streicher nur, nachdem Bilbo Nadel
und Faden bereitgemacht hatte und Frodo aus dem Zimmer geschickt
hatte. So eine Prozedur war nicht unbedingt etwas für einen
zwölfjährigen Jungen.
Bilbo atmete tief ein und versuchte sich selbst zu beruhigen,
dann fing er an. Einige Male befürchtete der Hobbit wirklich,
dass Streicher gleich das Bewusstsein verlieren würde,
da dieser gepresst nach Luft rang und die Augen fest geschlossen
hielt, aber als er den Faden schliesslich verknotete und die
Wunde verband, schlug Streicher die Lider auf und sah ihn aus
grausilbernen Augen an. Er war weiss wie ein Laken.
„Es tut mir leid“, sagte Bilbo leise, als er sah,
dass der Waldläufer sich wieder etwas im Griff hatte, „aber
ich sollte mir besser noch deine Schulter ansehen. Die sah auch
nicht sehr gut aus.“
Streicher hatte keine Kraft mehr zum Antworten und nickte nur
schwach. Als Bilbo ihm vorsichtig das Hemd auszog kam er erneut
ins Stocken, aber dieses Mal nicht wegen der Schwere der Verletzung.
Der ganze Oberkörper des Mannes war übersät mit
Narben, halbverheilten Wunden und Blessuren.
‚Du meine Güte! Was ist mit ihm geschehen?‘,
schoss es Bilbo durch den Kopf.
Streicher bemerkte den starrenden Blick und wich ihm aus. Auf
was er jetzt am wenigsten Lust hatte, war zu erklären,
wie er zu all diesen Wunden gekommen war und so griff er bereits
wieder nach dem Hemd, um sie zu verdecken. Bilbo stoppte seine
Hand.
„Nein, lass es, es ist schon gut. Ich will nur nach der
Wunde sehen.“
Streicher hielt inne und schloss die Augen. Da er nichts weiter
tat, fasste Bilbo das als Zeichen der Zustimmung auf. Der Hobbit
konzentrierte sich nur auf die Wunde vor ihm und es verging
nicht viel Zeit, bis auch die Schulter in sauberen Bandagen
eingewickelt war.
Als Bilbo fertig war und aufstand, bemerkte er mit einem leisen
Lächeln, wie Streicher mit dem Schlaf kämpfte. Seine
Augenlider schienen ihren eigenen Willen zu besitzen und wehrten
sich gegen alle Versuche des Waldläufers, sie offen zu
halten.
Schnell holte der Hobbit einige Decken hervor und richtete daraus
ein Lager auf dem Boden her. Kein Bett in dieser Höhle
würde dem Gewicht des Menschen standhalten und ausserdem
wäre es so auch für Streicher gemütlicher. Behutsam
half er dem verletzten Waldläufer, sich darauf niederzulassen.
Streicher wehrte sich überhaupt nicht und schien gar nicht
mehr zu realisieren, was um ihn herum vorging. Noch bevor sein
Kopf das Kissen berührte, waren seine Augen im Schlaf fest
geschlossen.
‚Und in diesem Zustand wollte er tatsächlich dort
draussen in der Wildnis übernachten und sich morgen auf
eine weite Reise machen?“, dachte sich Bilbo kopfschüttelnd.
Die Art und Weise wie Streicher mit sich selbst umging, gefiel
ihm überhaupt nicht. Das war nicht nur fahrlässig,
sondern fast selbstzerstörerisch. Genauso wenig gefielen
ihm die vielen Narben, die seinen Körper übersäten.
Der Ausdruck auf Streichers Gesicht, kurz nachdem sie heute
den Wald verlassen hatte, kam ihm wieder in den Sinn. Unzählige
Lasten schienen ihn beinahe zu erdrücken, und eine tiefe
Hoffnungslosigkeit hatte zu diesem Zeitpunkt seine grauen Augen
verdunkelt.
Bilbo schüttelte den Kopf ab sich selbst.
‚Es ist nicht mein Platz, mir Sorgen über einen Waldläufer
zu machen. Er wird schon wissen was er tut.‘
Mit diesen Gedanken schlüpfte auch er ins Bett und war
kurz darauf eingeschlafen.
*~*~*
Kinderlachen weckte ihn aus einem tiefen Schlaf. Aragorn hatte
das Gefühl, noch nie so tief geschlafen zu haben und er
hatte sich der Welt dort draussen schon lange nicht mehr so
weit entfernt gefühlt. Gut, das konnte ihm nur Recht sein.
Eine behagliche Müdigkeit überdeckte sein ganzes Denken
und es war ihm sehr zuwider, sich daraus zu lösen. Dort
draussen wartete die Pflicht auf ihn, sein Schicksal, das er
wahrscheinlich nie erfüllen würde und viel zu viele
Anforderungen. Nein, aufwachen kam nicht in Frage. Eigentlich
hätte er bis in alle Ewigkeit in diesem Zustand verweilen
können, irgendwo zwischen Wachen und Schlafen, wäre
da nicht dieses Lachen gewesen...
Es klang so sorglos und unschuldig. Ganz kurz drängte sich
ihm ein längst vergessenes Bild auf. Ein dunkelhaariger
Junge, wie er unbesorgt in den höchsten Ästen eines
Baumes herumturnte. Daneben, einen Arm sicher um die Hüfte
des Jungen geschlungen, stand eine anmutige Gestalt mit langen
dunklen Haaren und spitzen Ohren. Anmutig, bis auf das spitzbübische
Lächeln, das er und der Junge neben ihm auf den Lippen
trugen. Unten, am Stamm des Baumes lief eine zweite Gestalt,
die der ersten bis aufs Haar glich. Nur der Ausdruck auf dem
edlen Gesicht war eindeutig ein anderer. Groll und Missmut spiegelten
sich auf den Zügen des Elben, während sich die zwei
Gestalten auf dem Baum das Lachen nur mit Mühe verkneifen
konnten. Im Hintergrund erkannte man die Umrisse eines Hauses,
ja beinahe eines kleines Schlosses an einem Fluss.
Doch so schnell das Bild gekommen war, verschwand es auch wieder
und ein erneuter Schwall von Gelächter riss Aragorn aus
der vagen Erinnerung. Langsam aber sicher wurde er neugierig,
wem denn dieses ansteckende Lachen überhaupt gehörte.
Denn er konnte sich nicht wirklich daran erinnern, wo er war
oder wer bei ihm war. Und um das herauszufinden musste er die
Augen öffnen, wofür er sich aber noch immer viel zu
träge fühlte.
Auf einmal verstummte das Lachen und er hörte statt dessen
das Rascheln von Decken direkt neben ihm. Jetzt konnte Aragorn
seine Neugierde nicht mehr länger zurückhalten und
er schlug zaghaft die Lider auf. Zuerst blendete ihn das Licht
und er musste einige Male blinzeln, bevor er überhaupt
etwas erkennen konnte.
Ein enormer Wuschelkopf und zwei leuchtend blaue Augen in der
Mitte eines Gesichtes beugten sich über ihn.
„Guten Morgen“, sagte Frodo fröhlich. „Du
hast so lange geschlafen, dass du bereits das zweite Frühstück
verpasst hast. Hast du keinen Hunger?“
Aragorn blinzelte verwirrt und schaute sich um. Er war in einem
gemütlichen kleinen Häuschen, das mit winzigen Möbelstücken
eingerichtet war. Auf der anderen Seite des Zimmers konnte er
einen Tisch mit einem Tintenfass und einigen Karten darauf erkennen.
Und wenn er zum Fenster hinausschaute, dann sah er nur grüne
Hügel, so weit er blickte.
Aragorn blinzelte erneut und versuchte sich krampfhaft zu erinnern.
Wo war er?
In diesem Augenblick trat Bilbo ins Zimmer, ein Tablett mit
Frühstück auf den Händen tragend. Sofort kam
die Erinnerung an den gestrigen Tag wieder zurück.
Wachdienst im Auenland... der Hobbit... die Warge... der beinahe
aussichtslose Kampf. Danach die Auseinandersetzung mit Halbarad
und Erador, die Reise nach Beutelsend und die Versorgung der
Wunden. Doch von da an hatte er keine klaren Erinnerungen mehr.
Aragorn schaute an sich herunter und entdeckte die saubere Bandage
an seiner Schulter. Also hatte Bilbo sich gut um ihn gekümmert.
Er setzte sich vorsichtig auf und schaute dem Hobbit entgegen.
Erst jetzt bemerkte er, dass Frodo ihn noch immer erwartungsvoll
anschaute. Er war ihm ja noch eine Antwort schuldig.
„Doch“ wollte er sagen, aber es kam nur ein beinahe
tonloses Gekrächze heraus. Bilbo erkannte sofort, an was
es dem Waldläufer fehlte und reichte ihm eine Tasse mit
warmen Tee, welche Aragorn mit zittrigen Händen entgegennahm.
Nachdem er einen Schluck getrunken hatte, fühlte er sich
bereits viel besser.
„Doch, natürlich habe ich Hunger“, antwortete
er und lächelte Frodo an. „Ich denke zwar, dass ich
aus dem Wachstum heraus bin, aber essen muss ich trotzdem ab
und zu.“
Frodo schaute ihn aus grossen Augen an und legte dann nachdenklich
den Kopf zur Seite.
„Wenn du noch mehr wächst, dann kommst du ja nur
noch auf allen Vieren wieder zur Tür heraus!“, rief
er dann entrüstet und machte Anstalten, seinem Onkel das
Essen für den Waldläufer wegzunehmen. Aragorn hob
abwehrend die Hände und lachte.
„Nein! Wirklich Frodo, ich verspreche dir, dass ich nicht
mehr wachse! Auch ein Mensch wächst nicht ewig weiter,
du brauchst dir keine Sorgen über die Art und Weise zu
machen, wie ich wieder hier herauskomme."
Frodo schien noch nicht ganz überzeugt, liess aber das
Tablett wieder los, so dass Bilbo an Aragorns Lager treten konnte
und sich auf die Knie niederliess.
„Oh, da bin ich aber froh, dass du mich ihm Essen bringen
lässt“, meinte Bilbo lächelnd. „Denn unser
Gast scheint es nötig zu haben.“
Damit wurde er ernst und wandte sich an den Waldläufer.
„Deine Verletzungen sind weitaus schwerer als ich gedacht
habe. Ruhe und gutes Essen ist jetzt das, was du am meisten
brauchst und beides hast du hier zur Genüge.“
Aragorn wandte seufzend den Kopf zur Seite. Er hatte nie geplant,
auch nur hierher zu kommen, geschweige dann, länger zu
bleiben. Es gab noch so Vieles, das nach seiner Aufmerksamkeit
schrie und um das er sich kümmern musste. Jetzt, da er
vollkommen wach war, durfte er es sich gar nicht erlauben, daran
zu denken, seine Pflichten und Aufgaben zu vernachlässigen.
Weshalb war es ihm nicht erlaubt, sich einmal ruhig niederzulegen
ohne sich um irgendetwas sorgen zu müssen? Warum konnte
er nicht einfach ein normales Leben führen, so wie die
Hobbits? Ruhe und Frieden, die zwei Dinge, für die er am
meisten kämpfte, waren ihm verboten.
Als Streicher nicht antwortete, rückte Bilbo etwas näher
und legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Deine Leute werden das verstehen, da bin ich mir sicher.
Sie werden auch ohne dich für einige Tage auskommen. Und
uns störst es nun wirklich nicht, dass du hier wohnst,
stimmt’s, Frodo?“
Der junge Hobbit nickte eifrig. Es war lange her, seit sie Besuch
gehabt hatten und die Anwesenheit dieses Menschen war ihm angenehm.
Da würde auch sein etwas raues Äusseres nichts daran
ändern. Die sanfte Stimme allein reichte bereits, um alles
andere unwichtig zu machen.
„Natürlich darf er bleiben“, rief er begeistert.
„Er weiss bestimmt ganz viele tolle Geschichten über
die Welt da draussen. Ich möchte sie alle hören!“
Aragorns Lächeln wurde eine Spur wehmütiger. Ach,
diese Abenteuerlust und Neugierde kam ihm so bekannt vor. Hatte
er nicht auch seinen ada immer um solche Geschichten angefleht?
Und hatte er, aus kindlicher Unschuld heraus, sich nicht auch
immer als Held solcher Abenteuer gesehen? Oh, wie anders doch
die Wirklichkeit aussah!
„Ich weiss nicht so recht...“, fing er an, hielt
aber inne, als er Frodos flehenden Blick sah.
‚Weshalb eigentlich nicht?‘, meldete sich eine kleine,
aber eigenwillige Stimme in seinem Kopf. Und Aragorn konnte
ihr nur Recht geben. Vielleicht war es nun an der Zeit, dass
er auch einmal an sich selbst dachte und ausserdem war Frodos
bittender Blick einfach zu viel, um sich ihm zu widersetzen.
So stimmte er zu und hatte die Worte noch nicht einmal ganz
aus dem Mund gebracht, als Frodo auch schon mit einem Schrei
auf ihn zustürzte und ihn stürmisch umarmte. Aragorns
Wunden waren aber gar nicht begeistert von der Behandlung und
der Waldläufer stöhnte leise auf, als ein wütender
Schmerz durch seine verletzte Schulter zuckte.
Bilbo bemerkte es und seine Augen weiteten sich erschrocken.
„Frodo, lass das sein! Seine Wunden sind noch weit entfernt
davon, geheilt zu sein. Du musst vorsichtiger mit ihm umgehen,
hast du mich verstanden?“
Aragorn war froh, als sich der kleine Hobbit von ihm löste
und wartete mit geschlossenen Augen, bis der Schmerz abklang.
Als er aber dann die Augen öffnete, empfand er nur Bedauern
gegenüber Frodo. Der Hobbit-Junge hatte das Gesicht verzogen
und sah so aus, als ob er gleich in Tränen ausbrechen würde.
„Es... es tut mir... leid! Ich... ich wollte dir nicht...
weh tun.“
„Es ist nichts passiert“, sagte Aragorn mit beruhigender
Stimme und zog den jungen Hobbit in eine vorsichtige Umarmung.
„Siehst du, so tut es nicht weh.“
Frodo sah auf und ein Lächeln erhellte seine Züge.
Auch Bilbo lächelte milde.
„So, dann solltest du unseren Gast aber essen lassen.“
Frodo liess den Waldläufer nur widerwillig los, verschwand
aber dann aus dem Zimmer.
Aragorn machte sich an sein Frühstück, musste aber
schon bald einsehen, dass er bereits nach einigen Bissen genug
hatte. Trotzdem zwang er sich, noch mehr davon zu essen um seinen
Gastgeber nicht zu beleidigen, aber das riesige Hobbit-Frühstück
würde er unmöglich bewältigen können. Zudem
fühlte er sich bereits wieder müde und etwas fiebrig.
‚Was hat mir ada über Wargenbisse erzählt? Dass
sie sich schnell infizieren und mühsam zum Heilen sind.‘
Bilbo sah, dass der Waldläufer mittlerweile das Frühstück
mehr in seinem Teller herumschob, als dass er es ass und so
nahm er ihm den Teller ab. Er begegnete Streichers überraschtem
Blick mit einem Lächeln.
„Keine Angst, ich werde dich nicht zwingen, dein Frühstück
aufzuessen, ich denke dass du zu alt für das bist.“
Aragorn nickte dankbar und liess seinen Blick stattdessen noch
einmal im Raum herumwandern. Ein kleines Schwert, für einen
Menschen nicht viel grösser als ein Dolch, hing an der
entgegengesetzten Wand. Seine Klinge war kunstvoll verziert
und mit elbischen Runen beschriftet. Für Aragorn bestand
kein Zweifel, um welche Waffe es sich hier handelte.
„Stich“, sagte er leise und mehr zu sich selber
als zu Bilbo. Doch der Hobbit blickte überrascht auf und
folgte dem Blick des Waldläufers. Seine Augen verengten
sich auf einmal und sein Blick wurde misstrauisch, als er das
Tablett mit einer energischen Bewegung auf den Tisch stellte
und sich vor Aragorn aufbaute.
„Wer bist du?“, fragte er nachdrücklich. „Du
bist nicht nur ein einfacher Waldläufer wie du es vorgibst,
dafür kennst du mich und meine Geschichte viel zu gut.
Ausserdem habe ich immer noch das Gefühl, dich von irgendwo
her kennen zu müssen. Nur bin ich mir nicht sicher, ob
die frühere Begegnung angenehm oder schlecht gewesen ist,
denn sicher ist eins: Du verbirgst etwas und ich will jetzt
endlich wissen was das ist.“
Bilbos Stimme war kühl geworden und ungewollt stiegen ihm
wieder die Bilder von dem vernarbten Oberkörper des Mannes
in den Sinn. Streicher war kampferprobt und wenn dieser es wollte,
würde er ihn, selbst verletzt, ohne Weiteres töten
können... Aber etwas in ihm erinnerte ihn auch daran, wie
er mit Frodo und ihm selbst umgesprungen war. Er war immer freundlich
gewesen und er konnte nicht Recht daran glauben, dass der Waldläufer
wirklich etwas Böses im Sinn hatte. Trotzdem, er wollte
jetzt endlich wissen, wen er da eigentlich vor sich hatte.
Streicher hatte sich zurückgelehnt, so dass sein Rücken
das Sofa hinter ihm berührte. Sein Blick glitt abschätzend
über Bilbo und es dauerte einige Zeit, bis er antwortete.
„Wir haben uns tatsächlich schon einmal getroffen,
Bilbo Beutlin, aber es ist sehr lange her. Vor beinahe vierzig
Jahren, auf deinem Abenteuer, kamst du an Bruchtal vorbei und
wir sind uns dort begegnet.“
Bilbo blickte den Waldläufer ungläubig an. Er kannte
sich mit Menschen nicht gut aus, aber er war sich sicher, dass
der Mann vor ihm noch keine vierzig Jahre alt war. Sein Gesicht
war zwar bereits vom Kampf gezeichnet, aber er hätte ihn
nicht älter als dreissig geschätzt. Ausser vielleicht
die Augen... Diese grausilbernen Augen schienen älter zu
sein, sie trugen eine eigentümliche Weisheit und Klarheit
in sich, die er vorher nur bei Elben entdeckt hatte. Doch ein
Blick zu den abgerundeten Ohren des Waldläufers machte
ihm klar, dass es sich hier eindeutig um einen Menschen handelte.
Ein Mensch...
Auf einmal fiel es Bilbo wie Schuppen von den Augen. In Imladris
hatte es nur einen Menschen gegeben und dass war der kleine
Estel gewesen, Elronds Ziehsohn und Erbe Isildurs. Gandalf hatte
ihm später alles über den aufgeweckten Jungen erzählt,
auf dessen Schultern die Hoffnung der Menschen lag. Aber konnte
es wirklich sein, dass dieser ernste und verschwiegene Mann
vor ihm tatsächlich der gleiche lebhafte Knabe war, den
er in Bruchtal so gern bekommen hatte?
Bilbo musterte Streicher, nein Aragorn wie er sich jetzt an
den Geburtsnamen des Mannes erinnerte, mit neuen Augen. Er hatte
sich sehr verändert und das Gewicht der Verantwortung drückte
schwer auf seinen Schultern. Doch diese silbernen Augen, die
ihn von Anfang an in ihren Bann gezogen hatten, waren noch die
gleichen. Fast die gleichen. Ein leichtes Flackern wie von tief
vergrabenen Zweifeln stand darin.
„Du hast dich sehr verändert, Estel.“
Dem Waldläufer war es, als würde ihm der Hals zugeschnürt,
als er seinen alten Namen hörte. Schon seit Jahren hatte
ihn niemand mehr Estel genannt.
‚Hoffnung‘, dachte Aragorn bitter bei sich. ‚Wer
tauft ein Kind schon Hoffnung in solch düsteren Tagen?‘
Wieder meldete sich eine kleine Stimme in seinem Kopf, die ihm
sagte, dass es genau die jetzige düstere Zeit war, die
einen Hoffnungsschimmer brauchte um nicht endgültig zu
verzweifeln.
Aragorn lachte auf, aber dieses Mal hatte seine Stimme jegliche
Wärme verloren und sie klang bitter und kalt.
„Die Zeit geht nicht mit allen so gnädig um wie mit
dir. In meinen Adern fliesst zwar das Blut der alten Hochkönige
von Númenor, aber es gibt trotzdem einige Erfahrungen,
die einen verändern.“
Bilbo lief es bei beim Klang der auf einmal gefühllosen
Stimme kalt den Rücken hinunter. Der Mann vor ihm schien
nicht mehr der Gleiche zu sein, der noch vor wenigen Minuten
seinen Neffen im Arm gehalten hatte. Aragorns Gesicht verhärtete
sich und er presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen.
„Was ist geschehen?“, fragte der Hobbit leise, denn
dass etwas nicht stimmte war ihm mittlerweile klar geworden.
„Wie kommst du denn darauf, dass etwas nicht stimmt, Halbling?“,
fragte Aragorn mit höhnischer Überraschung und wieder
zuckte Bilbo fast zusammen, als er hörte, wie tot die Stimme
des Waldläufers auf einmal klang. „Weshalb sollte
etwas nicht stimmen, solange du genügend zu essen, eine
warme Höhle und eine Familie hast? Warum solltest du dich
auch mit Problemen beschäftigen, die sich ausserhalb von
Beutelsend abspielen? Bis jetzt hat dich das ja auch nie gestört.“
Bilbo wich erschrocken einen Schritt zurück, als er Aragorns
kaltem Blick begegnete.
„Ich verstehe nicht.“
„Oh wie Recht du hast! Du verstehst wirklich nicht. Was
weiss ein Hobbit schon von den Gefahren, die wir jeden Tag auf
uns nehmen um euch und eure Familien sicher zu halten. Nichts!
Du verstehst nichts von den Gräuel des Krieges, von den
Schreien sterbender Knaben, die Frodos Alter haben! Nichts von
den Klagen der Frauen, wenn sie um ihre Familien weinen! Nichts
von dem Gefühl, dass du für eine Truppe von tapferen
Männern verantwortlich bist und dass du es bist, der sie
in den Tod schickt. Nichts von dem Gefühl, dass du dich
die ganze Zeit als würdig erweisen musst nur um zu deinem
Schicksal zu gelangen, dass du nie gewollt hast. Ich will die
Macht und die Verantwortung nicht, aber was ich will, um das
geht es hier nicht...“
Aragorns am Anfang wütende, dann zunehmend tonlose Stimme
verstummte und er presste sich die Hand auf die Augen. Bilbo
sass wie erstarrt da und blickte den Waldläufer aus grossen
Augen an. Auf einmal fing er an zu verstehen. Aragorn hatte
nicht wirklich zu ihm geredet, sondern hatte geäussert,
was er bereits seit langer Zeit in sich hineinfrass. Und Bilbo
konnte ihn verstehen.
Er hatte gesehen, wie Elrond den Jungen stetig dazu ausgebildet
hatte, sich einmal über den Ruhm und das Verderben seiner
Vorfahren zu erheben und die Menschen von Mittelerde anzuführen.
Die Erwartungen an Aragorn waren enorm. Auch war er von Gandalf
ab und zu informiert worden, dass der Junge sich grossartig
entwickle und all die gestellten Aufgaben gut bewältige.
‚Er wird ein guter König werden.‘ erinnerte
sich Bilbo an Gandalfs genauen Wortlaut. Aber niemand hatte
je Aragorn gefragt, was er wollte. Alle sahen in ihm den König,
der Gondor und Arnor wieder auferstehen lassen würde .
Doch der steinige Weg dahin und das Elend des Krieges hatten
einen gehörigen Eindruck auf den Waldläufer gemacht,
was aber niemanden zu interessieren schien.
Der Mann vor ihm schien gebrochen vom Leid des Lebens und des
Krieges. Seine Schultern hingen kraftlos herab und die Hand
vor den Augen zitterte leicht. Nichts mehr erinnerte den Hobbit
an den starken und stolzen Mann, dem er im Wald begegnet war
und noch weniger erinnerte er ihn an den kleinen Jungen von
Bruchtal.
‚Oh, was habt ihr mit ihm gemacht?‘
Eine halbe Ewigkeit verging in der Bilbo sich nicht zu rühren
getraute. Seine Augen ruhten noch immer auf dem Waldläufer,
der vollkommen in sich zusammengesackt da sass und sich genauso
wenig bewegte wie der Hobbit. Tausend Gedanken schossen Bilbo
durch den Kopf, angefangen mit Elrond, dem er einmal gehörig
die Meinung sagen sollte über die Art und Weise wie er
seinen Schützling mit Anforderungen entmutigte und erdrückte.
Irgendeinmal stand er auf und ging zu Aragorn hinüber.
Er kniete sich vor den gebeugten Waldläufer hin und legte
ihm vorsichtig die Hand auf die Schulter. Als der andere nicht
reagierte, hob er seine Hand an Aragorns Kinn und zwang ihn
so dazu, ihm in die Augen zu blicken. Was er darin sah liess
Bilbos Herz erneut qualvoll zusammenziehen. So viel Verzweiflung,
Hoffnungslosigkeit und auch Hass standen darin. Hass gegen sein
Schicksal, aber am meisten gegen sich selbst. Bilbo seufzte
und liess seine Hand fallen.
„Egal was du von mir denkst, glaube mir wenn ich dir sage,
dass ich eine Ahnung habe, von dem was du fühlst. Ich weiss
was es heisst, in etwas hineinzugeraten, das man eigentlich
nicht will. Und ich weiss was es heisst, von allen Seiten überschätzt
zu werden. Lass deine Selbstzweifel und deine Wut gegenüber
deinem Schicksal nicht so gross werden, dass du daran erstickst.“
Aragorn schaute zu Bilbo, dann wieder weg und schluckte einige
Male leer. Er schien mit sich selbst und seiner Fassung zu ringen.
„Es tut mir leid, Bilbo“, wisperte er schliesslich
tonlos. „Du trägst keine Schuld an allem und ich
schäme mich abgrundtief für das was ich gesagt habe.
Es ist meiner mehr als nur unwürdig, in Selbstmitleid zu
versinken.“
Als der Hobbit sah, wie Aragorns Gesicht sich allmählich
wieder verschloss, lächelte er schmerzlich und schüttelte
leicht den Kopf.
„Nein, Aragorn, bitte tu jetzt nicht so, als ob alles
deine Schuld wäre. Nichts von all dem ist dein Fehler,
das musst du einsehen. Am liebsten möchte ich jetzt sofort
nach Bruchtal reisen um Lord Elrond anzuschreien, für all
das, was er dir angetan hat. Aber das wäre nicht fair,
denn ich bin nicht besser als er. Auch ich habe in dir nicht
mehr als nur einen Waldläufer gesehen, der es nicht verdient
hat, über seine Gefühle nachzudenken.“
Aragorn nahm einen tiefen Atemzug.
„Es ist nicht eure Schuld, wirklich, weder deine, noch
die von Elrond. Lass das Thema bitte dabei bewenden.“
Mit diesen Worten stand er auf und verliess noch etwas unbeholfen
das Zimmer. Bilbo blieb allein zurück und verfluchte sich
selber dafür, die falschen Worte gefunden zu haben.
‚Ich habe ihm geradezu vorgeworfen, in Selbstmitleid zu
schwelgen, anstatt ihn zu trösten und ihm neuen Mut zu
geben, den er im Moment so sehr braucht. Dabei wollte ich ihm
doch nur helfen!‘
*~*~*
Von seinen Verletzungen und vom Fieber geschwächt kam
Aragorn nicht weit. Seine Kräfte reichten gerade noch dafür
aus, die Höhle zu verlassen, bevor er erschöpft an
der Hausmauer zu Boden glitt. Er hatte die Augen fest geschlossen
und schlug seinen Kopf immer und immer wieder gegen die harte
Mauer hinter ihm.
Verdammt, was war nur in ihn gefahren? Hatte er denn eigentlich
den Verstand verloren oder weshalb hatte er sich so gehen lassen?
Er hatte eigentlich nie die Absicht gehabt, jemandem davon zu
erzählen, was er fühlte und befürchtete. Tief
in ihm drin herrschte eine so tiefe Unruhe, dass er mit Recht
geglaubt hatte, dass alles auf einmal losbrechen würde,
wenn er anfing jemandem davon zu erzählen. Er hätte
sich besser unter Kontrolle halten müssen, dann wäre
das nicht passiert. Aber in letzter Zeit war er andauernd so
angespannt, gereizt und am Ende seiner Nerven gewesen, dass
es eigentlich kein Wunder war, dass er den Hobbit angefahren
hatte.
‚Trotzdem, ein Waldläufer und noch dazu der Führer
der Waldläufer kann sich so etwas nicht leisten. Wenn ich
schon nicht einmal meine Gefühle unter Kontrolle habe,
wie soll ich dann ein ganzes Land regieren?‘
Seine Gedanken hätten wohl noch einen viel düsteren
Gang genommen, wäre nicht in diesem Moment ein dunkler
Wuschelkopf hinter der Hausmauer aufgetaucht.
„Streicher?! Was tust du denn hier draussen? Solltest
du nicht drinnen sein und dich ausruhen?“
Aragorn schaute müde in Frodos besorgtes Gesicht und fragte
sich, was er dem Jungen erzählen sollte. Schliesslich entschied
er sich für die Wahrheit.
„Dein Onkel und ich hatten einen Streit. Oder besser gesagt,
ich habe meine Beherrschung verloren und habe einige Dinge zu
ihm gesagt, die ich jetzt bereue und für die ich mich schäme.“
Frodo neigte seinen Kopf etwas zur Seite und schaute ihn aus
grossen Augen an.
„Um was ging es denn?“
Aragorn hatte diese Frage befürchtet, antwortete aber wahrheitsgemäss.
„Um meine Vergangenheit. Es gibt da Sachen, die ich lieber
vergessen würde und viele Sachen, die ich noch erledigen
muss. Es ist ziemlich kompliziert, musst du wissen.“
Der junge Hobbit nickte wissend, obwohl Aragorn ihm ansah, dass
er nicht ganz begriff. Der Anblick brachte ihn ein wenig zum
Schmunzeln und vertrieb einen Teil des Schatten, der sich über
seine Seele gelegt hatte.
„Ah, ich verstehe. Möchtest du darüber reden?
Onkel Bilbo sagt immer, dass alles viel leichter ist, wenn man
darüber geredet hat. Ich mache das auch immer, obwohl es
manchmal schwer ist. Ich vermisse meine Eltern sehr und wenn
ich über sie sprechen, dann tut es weh. Trotzdem fühle
ich mich besser wenn ich mit Bilbo geredet habe. Er kann einem
gut zuhören.“
Aragorn sah Frodo vor sich mit neuen Augen an. Auf einmal wurde
ihm klar, dass es noch andere Menschen gab, denen das Schicksal
nicht immer freundlich mitspielte. Andere Leute wie zum Beispiel
der Junge hier vor ihm. Frodo beklagte sich nicht, sondern nahm
die Zukunft wie sie war, ohne Bitterkeit und Selbstmitleid.
„Ich danke dir, Frodo“, antwortete Aragorn beeindruckt.
Der junge Hobbit blickte überrascht auf, als er hörte,
wie ernst die Stimme des Waldläufers war.
„Oh, aber man kann auch sonst gut mit Bilbo reden. Ich
kann ihm zum Beispiel auch nie etwas verschweigen. Wenn ich
irgendetwas anstelle, dann merkt er es sofort. Deshalb muss
ich es ihm sowieso gestehen, denn er sagt, dass ich immer rote
Ohren bekomme, wenn ich lüge.“
Aragorn hörte dem sorglosen Plappern des Jungen zu und
schmunzelte. Er spürte, wie ungewohnt sich das anfühlte.
Es war lange her, seit es für ihn einen Grund gegeben hatte,
zu lächeln.
„Ihr scheint euch hier draussen aber prächtig zu
amüsieren, obwohl es für meinen Geschmack etwas zu
kalt dafür ist“, erklang eine Stimme von der Haustüre
her und der Waldläufer und der junge Hobbit drehten sich
gleichzeitig um. Bilbo stand lächelnd im Türrahmen
und blickte auf die zwei herunter. Ihm fiel sofort auf, wie
entspannt Aragorn in Frodos Nähe wirkte. Der Junge tat
ihm gut.
„Kommt ihr zwei, ihr könnt euch auch drinnen Räubergeschichten
erzählen.“
Frodo stand sofort auf und beugte sich herunter, um Aragorn
auf die Beine zu helfen. Dieser brauchte jedoch zusätzlich
zu der Hilfe von Frodo auch noch die Wand als Stütze. Er
war noch sichtlich geschwächt und viel zu blass für
Bilbos Geschmack. Zeit, dass er sich wieder etwas hinlegte.
So geschah es dann auch und Bilbo verliess auf Zehenspitzen
den Raum, in dem der Waldläufer kurz zuvor eingeschlafen
war.
„Onkel Bilbo?“, fragte Frodo mit nachdenklich gerunzelter
Stirn. „Brauchen eigentlich alle Menschen so viel Schlaf?
Das ist doch langweilig und man kann gar nichts unternehmen.“
Bilbo lachte.
„Nein, natürlich nicht. Streicher ist noch verletzt
und dann braucht man mehr Schlaf als normal. So wie du, als
du krank gewesen bist.“
Frodo nickte verstehend und zusammen gingen sie in die Küche,
um die ersten Vorbereitungen fürs Abendessen zu machen.
*~*~*
Aragorn wurde vom herrlichen Duft von Pilzen geweckt. Sofort
kleidete er sich an und folgte dem himmlischen Geruch in die
Küche. Die Sicht vor ihm brachte ein Lächeln auf sein
Gesicht. Bilbo war mit dem Rüsten von Gemüse beschäftigt,
während Frodo im Topf mit den Pilzen herumrührte.
Der Ausdruck auf dem Gesicht des jungen Hobbit sagte Aragorn
deutlich, dass dieser sich enorm zusammennehmen musste, um den
Topf nicht ganz alleine zu leeren.
„Kann ich auch irgendwie behilflich sein?“
Bilbo drehte sich herum und winkte den Waldläufer in die
Küche hinein.
„Aber natürlich, du kannst den Tisch decken, das
Essen ist gleich fertig.“
Aragorn suchte sich das Geschirr zusammen und legte es auf den
kleinen Tisch. Insgeheim hoffte er, dass die Bank seinem Gewicht
standhalten würde. Alles war so klein hier drinnen und
nichts sah besonders robust aus.
„Wie fühlst du dich, Streicher?“, riss Bilbos
Stimme ihn aus seinen Gedanken, absichtlich vor Frodo seinen
richtigen Namen nicht nennend.
„Es geht mir gut, die Kräfte kehren zurück.
Morgen werde ich bestimmt dazu fähig sein, weiterzureisen.“
Frodo drehte sich dabei um und schaute ihn enttäuscht an.
„So bald? Aber ich hatte gehofft, du könntest mir
noch zeigen, wie man mit dem Schwert umgeht. Oder mir noch einige
elbische Wörter beibringen könntest. Onkel Bilbo hat
nämlich gesagt, dass du fliessend elbisch sprichst.“
„Ich würde gerne bleiben“, antwortete Aragorn.
„Aber ich habe noch so viele Sachen zu erledigen. Es sind
nicht immer angenehme Dinge, aber sie müssen getan werden.“
Frodo nickte traurig. Bilbo spürte die aufkommende Bedrückung,
wollte aber nicht, dass sie sich das Abendessen verdarben.
„Komm zu Tisch, Frodo. Wenn du dich artig benimmst, kommt
Streicher uns vielleicht ja einige Male besuchen.“
Aragorn antwortete nicht darauf. Er konnte nicht versprechen,
dass er Zeit hatte, den Hobbits in nächster Zeit einen
Besuch abzustatten, aber er würde sie bestimmt so schnell
nicht wieder vergessen.
Das Essen war wunderbar und nachdem sie gemeinsam abgewaschen
und das Geschirr versorgt hatten, beschlossen Aragorn und Bilbo,
noch einen Spaziergang durch Hobbingen zu machen. Frodo hatte
kurzfristig die Nachricht erhalten, dass es bei den Gamdschies
Nachwuchs gegeben hatte und da er mit der Familie so gut auskam,
stattete er ihnen noch schnell einen Besuch ab um ihnen zu gratulieren.
Die Sonne ging allmählich unter, als Bilbo und Aragorn
zwischen den Hügeln des Auenlandes umherspazierten. Ab
und zu kam ihnen noch ein Hobbit entgegen und der hochgewachsene
Waldläufer erregte jedes Mal Aufsehen, denn Menschen kamen
so gut wie nie hierher. Die meisten Bewohner des Auenlandes
hatten sich jedoch in ihre Höhlen zurückgezogen.
Bilbo war gerade damit beschäftigt gewesen, Aragorn etwas
tiefer in die Entstehungsgeschichte von Hobbingen einzuweihen,
als vor ihnen zwei Gestalten auftauchten, ein Mann und eine
Frau.
Bilbo hielt sofort inne, als er die zwei Hobbits sah und seufzte
hörbar, als er Lobelia Sackheim-Beutlin und ihren Mann
Otho erkannte. Sie beide gehörten zu Bilbos Verwandtschaft,
waren aber mehr als nur ungebetene Gäste. Schon seit langem
waren sie erpicht darauf, Bilbo Beutelsend abzukaufen, aber
der wollte nichts davon wissen. Als die zwei nun vor ihm und
dem Waldläufer stehen blieben, wusste er, dass sie Ärger
bedeuteten.
„Bilbo Beutlin. Reicht es nicht schon, wenn man sich seltsame
Geschichten über dich erzählt und musst du jetzt unbedingt
auch noch einen vom Grossen Volk in die Geheimnisse des Auenlandes
einweihen?“
Bilbo merkte, wie Aragorn sich neben ihm versteifte, als er
die keifenden Worte der Frau hörte. Der Hobbit gab sich
jedoch betont ruhig.
„Aber Lobelia, was gibt es denn hier schon für Geheimnisse?
Hast du Angst er stiehlt dir deine Kochrezepte? Darum ist es
bestimmt nicht schade.“
Die Angesprochene warf Bilbo einen giftigen Blick zu, fuhr aber
dann fort, den Waldläufer feindselig zu begutachten.
„Man darf dem Grossen Volk nicht trauen, sie sind hinterhältig
und habgierig. Und dieser hier sieht besonders fies aus. Wer
weiss was er in der Nacht tut wenn man ihn unbeaufsichtigt lässt?
Ich traue ihm zu, dass er uns ausspioniert und dann mit einer
ganzen Horde Menschen zurückkommt um uns und unsere Habe
dem Erdboden gleichzumachen.“
Aragorn sah jetzt sichtlich aufgebracht aus, gab sich aber Mühe,
ruhig zu bleiben.
„Ich plane nichts dergleichen. Ich bin hier bloss zu Besuch
und werde das Auenland morgen bereits wieder verlassen.“
Die Frau lachte schrill auf.
„Ja, um dann gleich wieder zurückzukommen um uns
im Schlaf zu ermorden! Komm Otho, wir schauen lieber, dass wir
auf der Hut sind. Ich werde die nächsten Nächte nicht
ruhig schlafen können...“
So ging es weiter und selbst als die beiden Gestalten in der
nun beinahe vollkommenen Dunkelheit verschwunden waren, konnte
man ihre Stimmen noch hören.
Bilbo schüttelte den Kopf und seufzte genervt.
„Du darfst ihnen keine Beachtung schenken, Aragorn, es
sind bloss...“
„Es sind bloss was? Leute die nicht wissen wovon sie reden?“,
unterbrach der Waldäufer den Hobbit aufgebracht. Erst jetzt
fiel Bilbo auf, dass Aragorn vor Wut und Empörung zitterte.
„Es sind nicht bloss sie zwei, die das denken“,
fuhr Aragorn wütend fort. „Es sind bedenklich viele,
die so denken. Glaubst du wirklich, dass irgendjemand im Auenland
ausser dir weiss, was überhaupt alles getan wird damit
ihr sicher seid? Überall werden wir auf diese Weise empfangen,
mit Feindseligkeit und manchmal sogar mit Hass. Diese Welt ist
so voller Undankbarkeit dass ich ihr manchmal am liebsten den
Rücken zukehren würde.“
Aragorn schwieg und schaute grimmig zu Boden. Bilbo versuchte
sein Bestes, ihn zu beruhigen.
„Es sind nicht alle so wie Lobelia und Otho. Schon seit
meiner Kindheit komme ich nicht mit ihnen aus und das wird sich
wohl auch nie ändern. Du darfst sie nicht als Massstab
für alle andern nehmen.“
Aragorn schnaubte gereizt.
„Wen soll ich den dann nehmen? Die Leute von Rohan? Vor
nicht allzu langer Zeit kam ich einem Dorf in Rohan bei einem
Orkangriff zu Hilfe. Den einzigen Dank den sie mir im Nachhinein
zukommen liessen, war dass sie mich für den Angriff verantwortlich
machten und mich aus dem Dorf jagten, mit der Warnung mich zu
töten, falls ich zurückkäme. Ich war verwundet
und drei Tage lang lag ich allein mit Wundfieber in einer Höhle,
im Winter und ohne Nahrungsmittel. Niemand hat mir damals geholfen.“
Die Stimme des Waldläufers klang heiser und bitter. Bilbo
hatte das Gefühl, dass sich ein Knoten in seinem Bauch
bilden würde, als er an das dachte, was Aragorn durchgemacht
hatte. Und wie konnte sich da jemand nicht darüber wundern,
weshalb der Waldläufer so bitter und enttäuscht vom
Leben war?
„Bitte, Aragorn“, sagte Bilbo beinahe flehend. „Denk
nicht an diese Erfahrungen, sie sind schlecht und verdienen
es nicht, erinnert zu werden. Denk an all die guten Erlebnisse,
ich bin mir sicher, davon gibt es auch welche.“
„Aber es sind so wenige“, erwiderte der Waldläufer
müde und strich sich mit der Hand über die Augen.
„Ich will nicht mehr kämpfen, Bilbo, ich möchte
mich irgendwo niederlegen, wo ich mich geborgen fühle.
Und dann möchte ich einfach nur ruhen. Nicht schlafen,
sondern ruhen. Weshalb ist das nicht möglich?“
Bilbo lächelte leicht. Diese Frage erinnerte ihn ein wenig
an Frodo.
„Weil du tatsächlich unsere Hoffnung bist. Du hast
eine Stärke in dir, die man fühlen kann. Ich habe
sie schon gestern gesehen, als du die Warge bekämpft hast.
Sie hatten dich beinahe, aber du gabst nicht auf, du verlorst
deine Hoffnung nicht. Also gib sie auch jetzt nicht auf. Eines
Tages wirst du zur Ruhe kommen und bis dahin wirst du immer
Freunde haben, die dich stützen. Nimm Gandalf, Elrond,
Halbarad oder mich als Beispiel. Wir werden da sein wenn du
uns brauchst, du musst unsere Hilfe nur akzeptieren.“
Lange Zeit schwieg Aragorn, dann auf einmal schlich sich ein
leises Lächeln auf seine Züge.
„Ich danke dir, mein Freund. Bist du dir aber sicher,
dass du wirklich ein Hobbit bist? Denn das war weiser gesprochen,
als ich einen Halbling je habe sprechen hören. Gandalf
hätte es nicht besser aussprechen können.“
Bilbo lächelte zurück, wurde aber dann sofort wieder
ernst.
„Ich weiss, dass du kein leichtes Schicksal hast, aber
wisse, dass mein Angebot ernst gemeint ist. Ich kann die Bürde
nicht leichter machen, aber ich kann dir helfen, sie zu tragen.
Du kannst jederzeit hierher zurückkehren, wenn du fühlst,
dass der Krieg zu viel für dich wird. Du wirst hier immer
einen Ort finden, an dem du ruhen kannst.“
Aragorn sagte nichts, sondern schloss Bilbo nur wortlos in seine
Arme. Eine ganze Weile blieben sie so stehen, bevor sich Aragorn
löste, die Augen verdächtig glitzernd.
„Hannon le, mellon nîn. Du hattest wirklich Recht.
Es gibt nicht nur schlechte Erfahrungen und es gibt nicht nur
schlechte Menschen, das hast du mich gelehrt. An diese kurze
Zeit hier werde ich mich bestimmt gerne erinnern. Und an das
wundervolle Abendessen.“
Bilbo lächelte und sah zu seiner Erleichterung, dass auch
der andere schmunzelte. Das Lächeln stand ihm gut, er wirkte
so viel jünger und unbesorgter. So viel mehr nach dem Jungen
von Bruchtal.
„Dann lass uns zurückkehren und sehen, ob der kleine
Racker schon wieder zu Hause ist. Und dann geht es ab ins Bett,
du hast morgen noch eine lange Reise vor dir und bist noch immer
nicht gesund."
Aragorn grinste.
„Ja, ada.“
*~*~*
Frodo war tatsächlich schon zu Hause, als Aragorn und
Bilbo zurückkamen.
„Und, wie war es bei den Gamdschies?“, fragte Bilbo
und hängte seinen Umhang an den Kleiderständer.
„Es war toll!“, strahlte Frodo. „Frau Gamdschie
hat einen grossen Kuchen gebacken und da die Verwandtschaft
erst morgen eingeladen ist, durften wir ihn ganz alleine essen.
Ah ja, und sie haben einen Jungen gekriegt. Samweis ist sein
Name. Ich durfte ihn halten und er schien das zu mögen.
Jedenfalls hat er mich fast nicht mehr losgelassen, als ich
ihn an seine Mutter zurückgeben wollte.“
Bilbo beugte sich herab und fuhr Frodo liebevoll durchs Haar.
„Das ist schön. Wenn er etwas älter ist werdet
ihr bestimmt gut miteinander auskommen.“
Der ältere Hobbit stand wieder auf und drehte sich zu Aragorn
herum.
„So, dann schlage ich vor, dass wir heute etwas früher
schlafen gehen, wenn Streicher uns morgen verlassen will.“
„Muss“, korrigierte ihn der Waldläufer und
lächelte wissend. |