„Als Kind
war Legolas sehr ungestüm, und er wurde oft in das Zimmer
seines Vaters gerufen, um bestraft zu werden.“
(Aus „Rescue of the Rowan“ von Chathol-linn)
Als sich dieser Vorfall zutrug, war Legolas in seinem zwölften
Lebensjahr... oder in dem Alter, das etwa dem eines sterblichen
Jungen von zwölf Jahren entsprechen würde. Nun sagt
man, dass Elbenkinder wenig Anleitung brauchen, und das ist
wahr. Aber wenn Legolas zu lernen wünschte, dann standen
ihm ungewöhnlich reichhaltige Quellen zur Verfügung.
Er war der Sohn einer Königin und eines Königs, deren
Hof Elben mit besonderen Fähigkeiten und Interessen anzog.
Das Haus von Thranduil war wie ein zwangloser Hort des Wissens
für Erwachsene wie für Kinder, wo Schüler und
Lehrer es gleichermaßen genossen, zu lehren und zu lernen,
wo es kaum Lehrpläne gab, dafür aber reichlich Hausaufgaben,
und wo die Prüfungen wirklich etwas zu bedeuten hatten.
Berendil, genannt der Bogenmeister, war ein solcher Fachmann.
Er war sehr anspruchsvoll. Fast jeder Elb erlernt den Gebrauch
von Waffen, und viele bevorzugen den Bogen. Thranduil verbrachte
zahlreiche angenehme Tage mit seinen Kindern auf der Jagd im
Düsterwald, und er bemerkte früh, dass Legolas vielversprechende
Ansätze im Umgang mit dem Bogen zeigte. Also bat der König
Berendil, Legolas in die Lehre zu nehmen, und Berendil stimmte
zu. Und von da an übte sich der Prinz jeden Tag mit dem
Bogenmeister in der Kunst, der Wissenschaft und der Überlieferung
des Bogenschießens... ab einem Alter, das etwa neun Jahren
entsprach, bis zu dem Tag, an dem sich diese Geschichte zutrug.
Der Bogenmeister brachte Legolas bei, wie man die Form eines
guten Langbogens in den Zweigen eines lebendigen Baumes erkennen
konnte. Er lehrte ihn, welche Bäume das geschmeidigste
und kräftigste Holz für Bögen lieferten; die
Esche, der Nussbaum, der Zürgelbaum, die Rotulme und die
Eibe. Er lehrte Legolas, wie man die Äste erntete, die
Borke abschälte und wie man die innere Schicht bis zum
Holz abschaben musste. Er zeigte Legolas den ersten Bogen, den
er mit eigenen Händen gemacht hatte und sprach zu ihm von
seinen Stärken und Schwächen. „Dies nennt man
einen Einzelbogen. Siehst du, dass er nur aus einem einzigen
Stoff gemacht ist?“ sagte der Bogenmeister. „Er
ist leichter zu fertigen, aber nicht so stark wie der verbundene
Bogen. Jetzt schau dir den Bogen an, den ich heute benutze.
Das ist so ein verbundener Bogen, aus Holz und Horn gemacht,
und aus einem geheimen Stoff. Einen verbundenen Bogen fertigen
wir später.“
Er erklärte, dass ein Bogen mehr sein müsse als nur
ein zweifach geschwungenes Gerät, das die Kraft vom angespannten
Arm des Schützen auf den davonschnellenden Pfeil übertrug.
Gewiss, er sei eine Waffe für den Krieg und die Jagd, aber
auch ein Gegenstand der Schönheit in Form und Gestaltung.
Und er müsse die alte und ruhmvolle Tradition der Bogenschießkunst
zeigen. Der Bogenmeister erzählte Legolas Geschichten von
berühmten oder gescheiterten Bogenschützen aus den
Legenden; der sterbliche Robin Hood, der die Reichen beraubte
und die Armen beschenkte... der Elb Langbogen, der den Ziehsohn
von König Thingol rettete und der von eben dem selben Ziehsohn
erschlagen wurde... Diana von den Sterblichen, die Himmelsjägerin,
die den Maia glich, und deren Zeichen der Bogen der Mondsichel
ist. Und der gewaltige Vala Oromë. Tradition. Verstand
Legolas all dies? Er verstand es.
Der Bogenmeister begleitete Legolas, während er mit einem
kurzen Messer mit Horngriff seinen ersten eigenen Bogen schnitzte.
Es war ein Einzelbogen ais Eschenholz. Legolas nannte ihn Grünbogen,
teilweise, weil dies ähnlich klang wie sein eigener Name
- Grünblatt - und zum anderen, weil er ihm selbst ähnelte...
„grün“ an Jahren und Erfahrung.
„Die Sehnen sind nicht der schwächste Teil des Bogens.
Sie sind der stärkste, und auch am leichtesten herzustellen.“
sagte der Bogenmeister. Er setzte seiner Erklärungen über
Sehnen fort. Bogensehnen, sagte er, haben einen Punkt, an dem
sie überdehnt werden können, und gute Bogenschützen
müssen das wissen. Wenn der Zug an der Sehne zu stark wird,
dann reißt sie. Je kräftiger die Sehne, desto größer
die Gewalt („Ich meine die Zerstörungskraft!“
sagte Berendil), mit der der Rückstoß den Schützen
trifft, am häufigsten in die Augen. „Aus diesem Grunde,“
warnte er, „geht sicher, dass Eure Bogensehnen aus der
besten Faser und so sorgfältig wie möglich gedreht
sind. Gebt darauf acht, sie rechtzeitig auszutauschen, bevor
sie altern.“ Er brachte Legolas bei, wie man die festen
Blattrippen der Bogenpflanzen für Fasern benutzte.
Der Bogenmeister bezog auch die Fähigkeiten von Legolas’
Schwester Elwen mit ein. Sie lehrte Legolas, wie man die Bogenpflanzen-Fasern
mit Flachs vermengte und wie man sie mit einer Tropfenspindel
zu starken Fäden spann (und ungeachtet Berendil’s
Behauptung, die Herstellung einer Bogensehne sei einfach, kann
man die Spinnkunst mit einer Tropfenspindel keineswegs an einem
Tag lernen). Dann zeigte sie ihm, wie man drei gesponnene Fäden
zu einer Flechte verband. Sie packte drei Strähnen von
Legolas’ Haar und flocht sie ineinander, um deutlich zu
machen, was sie meinte. „So muss es aussehen.“ sagte
sie. Legolas war drauf und dran, sich über diese Würdelosigkeit
zu beschweren... aber angesichts der Tatsache, dass drei seiner
Haarsträhnen unentrinnbar in den Fäusten seiner Schwester
hingen, besann er sich eines Besseren. Später entschied
er, dass es ihm gefiel, und für den Rest seiner Tage trug
er wenigstens einen geflochtenen Zopf in seinem Haar.
Elwen zeigte ihm, wie man die verknoteten Enden der Sehnen
so umbog, dass sie in die Kerben an den Bogenenden passten.
„Wenn du so weit bist, deinen Bogen zu bespannen,“
sagte sie, „dann wird dir der Bogenmeister beibringen,
wie man den Rahmen benutzt, damit die Spannung gleichmäßig
bleibt. Denk daran, die fertige Sehne mit einer Schicht aus
Bienenwachs zu überziehen.“ Der Rat des Bogenmeisters
in dieser Sache war einfach: „Vernachlässige nie
deine Bogensehnen.“ Und Legolas vernachlässigte sie
nie.
Der Bogenmeister liebte es, über Pfeile zu sprechen. Er
fand sie wunderschön um ihrer Grazie und ihrer Einfachheit
willen, und weil sie ihre Aufgabe so gut erfüllten. Er
nahm Legolas mit in den Wald und zeigte ihm die Bäume,
deren Holz sich am besten und am schlechtesten für Pfeile
eignete. Sie unterschieden sich von den Bäumen für
Bogenholz. Pfeile mussten leichtgewichtig sein, geschmeidig
genug, um Spitze und Federn daran zu befestigen und stark genug,
um sich tief in den Leib des Zieles zu bohren, ohne bei dieser
Belastung zu brechen.
„Pfeile sind wie Vögel, und deswegen werden sie von
Manwë, dem Vala geliebt.“ sagte der Bogenmeister.
„Erinnere dich, wie Fingon Maedhros entdeckte, der an
einer Hand über Morgoths Abgrund hing! Maedhros flehte
ihn an, seine Qualen mit einem Pfeil zu beenden. Fingon legte
einen Pfeil ein, spannte den Bogen und rief Manwë um Hilfe
an. Manwë schickte seinen Adler, der Fingon zu Maedhros
hinauftrug; und Fingon schnitt Maehdros’ Hand am Handgelenk
ab und befreite ihn. Manwë hört auf die Vögel.
Manche Vogelfedern eignen sich besser als andere, um Pfeile
zu befiedern, aber glücklicherweise stammen die besten
von zahmem Geflügel, so dass du nicht erst die Wälder
nach Pfeilfedern durchstreifen musst.“
Nichtsdestoweniger kehrten sie in den Wald zurück, um
Pflanzen zu finden, mit denen man die Pfeile einfärben
konnte. Berendils Lieblingsfarbe für Pfeile war grün
– die kann man aus Färberwaid gewinnen ( das vermutlich
schon Robin Hood verwendete, um seine „lincolngrünen“
Stoffe herzustellen). Und so übte Legolas Grünblatt
mit seinem Grünbogen und grünen Pfeilen, die mit Gänsefedern
gefiedert waren.
Die Pfeilspitzen waren eine andere Sache. Die Elben hatten
mehr über die Schmiedekunst vergessen, als andere jemals
darüber lernen würden, und die Herstellung metallener
Pfeilspitzen gehört in das Arbeitsgebiet des Schmiedes.
Zwerge und Menschen beherrschen diese Fertigkeit ebenfalls,
und sogar Orks bringen nützliche Pfeilspitzen zustande.
Jedoch kommt niemand an das Werk der Elben heran. Der Bogenmeister
brachte Legolas zu den Essen der Elbenschmiede, und obwohl Legolas
nicht viel mit diesem Handwerk anfangen konnte, lernte er trotzdem
genug darüber, dass es ihm für den Umgang mit dem
Bogen nützlich war. Er lernte auch den Kniff, wie man scharfe
Steinsplitter als Pfeilspitzen benutzt; welche Art von Stein
(Flint war am leichtesten zu finden, Obsidian war auch gut,
wenn man ihn bekommen konnte), welche Größe und Form,
wie man sie schärfte und am Pfeil befestigte.
Am häufigsten lernte er, wie man Pfeile zurückgewann.
Nicht, wie man sie in einem Kampf aufsparte (es sei denn in
der höchsten Not), weil man während des Gefechts deswegen
ein gefährliches Zögern riskierte, sondern wie man
sie aus dem Leichen der Feinde oder der Beute zurückholte.
„Jetzt, da du deinen Bogen und deine Pfeile hast, müssen
wir dir einen Köcher und eine Halterung beschaffen.“
sagte der Bogenmeister. „Ich werde sie für dich machen.
Der Köcher wird leicht sein und Platz für drei Dutzend
Pfeile haben. Du trägst ihn auf dem Rücken. Die Halterung
wird so aussehen wie meine – ein Riemen geht vom Köcher
über deine linke Schulter, ein zweiter unter deinem linken
Arm hindurch und ein dritter unter deinem rechten Arm. Sie treffen
auf deiner linken Brustseite zusammen und werden wie ein Gürtel
mit einer Metallschnalle verbunden. Ich werde darauf achten,
dass die Halterung sitzt, ohne über deine Tunika zu scheuern.“
Der Bogenmeister machte beides für seinen jungen Schüler,
wie versprochen. Der Köcher war ein elbisches Kunstwerk,
geschmückt mit eingravierten, miteinander verflochtenen
Buchenblättern, und die Lederriemen scheuerten nicht.
Während all dieser Lehrstunden über Handwerk und
Bogenkunde vernachlässigte Legolas seine Zielübungen
nicht. Oh nein. Vom ersten Tag an trainierte er unter der Anleitung
des Bogenmeisters mit einem Übungsbogen. Berendil ließ
Legolas natürlich zuerst auf unbewegliche Ziele schießen.
Legolas schoß auf unbewegliche Ziele aus nächster
Nähe, aus mittlerer Distanz und aus der weitestmöglichen
Entfernung – tatsächlich sahen seine elbensichtigen
Augen weiter, als er schießen konnte. Er schoss im Licht
des Morgens und des Nachmittags. Er schoss in der dunkelsten
Stunde der finstersten Nacht , und unter Sternen- und Mondlicht
(das letztere am liebsten). Er ließ seine Abendmahlzeiten
aus, um in der Düsternis der wolkigen Dämmerung zu
üben. Er schoss im blendenden, goldenen Licht der Mittagssonne
und im blendenden weißen Licht der winterlichen Schneestürme.
Während dieser frühen Lehrstunden entwickelte Legolas
eine dicke Schwiele aus Hornhaut am linken Zeigefinger, die
seine Hand vor dem Pfeil schützte, wenn er von der Sehne
schnellte. Die Schwiele tat nicht weh und sah auch nicht unziemlich
aus. Der Bogenmeister sagte: „Die Sterblichen tragen oft
einen Handschuh an ihrer Bogenhand, um ihr Fleisch vor Schmerzen
zu schützen, aber das brauchst du nicht. Wenn du den Bogen
je länger als einen Monat nicht benutzen solltest, dann
verschwindet die Schwiele. Trag keinen Handschuh. Dein Bogen
wird deine Absichten besser erkennen und dir leichter gehorchen,
wenn du die bloßen Hände benutzt, und du wirst weniger
Fehler machen.“
Sein ganzes Leben hindurch sollte Legolas niemals einen Bogenhandschuh
tragen.
Legolas schoß auf unbewegliche Ziele aus einer stehenden
Position (am leichtesten), einer knienden Position (auch nicht
schlecht) und während er mit gekreuzten Beinen auf dem
Boden saß. Er schoss seine Pfeile aus gebückter Position
ab, und während er auf dem Rücken lag. Er schoss,
während er stillhielt, während er sich auf den Boden
fallen ließ und während er wieder aufstand. Er schoss
aus diesen Positionen, während es regnete und der Wind
blies. Er nutzte seinen eigenen, selbst gemachten Bogen oder
den Übungsbogen des Bogenmeisters, damit er lernte, wie
unterschiedliche Bögen auf unterschiedliche Begleitumstände
reagierten. Legolas wurde geschickt darin, auf unbewegliche
Ziele zu schießen. Das war gut, weil es keine Kombination
aus Wetter, Licht, Entfernung und Bogensorte gab, in der Berengil
keine Meisterschaft von ihm forderte... und nach den ersten
paar Monaten ging er dazu über, Fehler dadurch zu korrigieren,
dass er ihn zum Fasten zwang. Legolas fastete nur selten, bis...
...Berendil sagte: „ich sehe gefährliche Zeiten
voraus. Du musst lernen, auch deine linke Hand zu gebrauchen.
Wenigstens überrascht du deine Feinde damit, und vor allem
rettet dir das in einem Gefecht das Leben, wenn deine rechte
Hand verletzt wird.“ Also wiederholte Legolas all seine
Lehrstunden mit der linken Hand und entwickelte eine passende
Schwiele an seiner Rechten. Diese Übungen trieben den jungen
Prinzen fast in den Wahnsinn, aber er sah auch die Weisheit
darin und er wollte der beste Bogenschütze werden, der
jemals gelebt hatte. Dieser Gedanke hielt ihn aufrecht, wenn
seine linke Schulter schmerzte und er nach seiner ausgelassenen
Mahlzeit hungerte.
Berendil berichtete, das Legolas ein guter Schüler sei.
„Er hat eine Begabung.“ pflegte er zu sagen. Er
empfahl Legolas, an den Anfänger-Wettbewerben teilzunehmen.
Legolas gewann sie alle.
Der Bogenmeister sagte: „Lass uns zu beweglichen Zielen
übergehen.“ Zuerst waren es nur Lederscheiben, die
von Baumzweigen herunterhingen und im Wind hin- und herschwangen.
Sie bereiteten Legolas keine Schwierigkeiten. Also begannen
sie mit der Jagd. Bald fing Legolas an, den Familientisch regelmäßig
mit Fleisch zu beliefern. Der Bogenmeister zog Jägerin
zu den Lehrstunden über das Anschleichen und das Töten
während der Jagd hinzu. Sie war eine der dunkelhaarigen
Elben und wurde als besonders schön angesehen (aber welcher
Elb ist das nicht...?)
Jägerin war hochgewachsen und kräftig, die beste
Fährtensucherin am Hof, und eine tödliche Schützin
mit dem Bogen. Sie achtete die Jagd. Die Aufgabe von Jägerin
war es, die Weidmannskunst zu lehren, die Legolas zu dem Ziel
führen sollte, eine saubere Philosophie des Umganges mit
dem Töten zu entwickeln.
„Legolas,“ sagte sie, „leg nie einen Pfeil
auf deine Sehne, wenn du nicht vorhast, zu töten. Dafür
ist der Bogen gedacht, zur Verteidigung oder zur Beschaffung
von Nahrung. Seine Drohung ist nichts weniger als der Tod. Verstehst
du das?“
Zu dieser Zeit glaubte Legolas noch nicht, dass der Tod sein
ausschließliches Ziel sei. Er sagte nichts.
„Du musst das jetzt noch nicht begreifen. Allerdings
musst du so handeln, als würdest du es tun. Wenn du deine
Wild findest, solltest du es schnell töten und mit nur
einem Schuß, wenn das möglich ist. Wenn du es vermeiden
kannst, deine Beute zu ängstigen, um so besser. Verwunde
sie nicht nur. Aber solltest du das tun, dann such das verletzte
Tier und töte es so schnell wie möglich, ohne zu versagen.
Und bitte um Verzeihung für sein Leiden. Bei jedem Tier,
das du tötest, musst du Dankesworte dafür sprechen,
dass es am großen Kreislauf des Lebens teilhat. Wenn du
das Tier nicht zur Nahrung brauchst, oder wenn es dich nicht
bedroht, dann missbrauche deinen Pfeil nicht. Verstehst du das?“
„Ja, Jägerin.“ sagte Legolas.
Jägerin lehrte Legolas, wie man das Wild durch den Wald
und die Felder verfolgt. Sie brachte ihm das Aussehen der verschiedenen
Fährten bei. Sie kannte alle jagdbaren Tiere, und sie bevorzugte
den kleinen, roten Hirsch. Ihre liebste Jagdtunika war aus der
Decke des roten Hirschen gemacht; ihr schwarzes Haar wirkte
im Gegensatz dazu wild und wunderschön. Sie lehrte Legolas,
was er in der Brunftzeit zu erwarten hatte und wie er eine frühe,
schwangere Ricke erkannte, wenn er eine zu Gesicht bekam.
Eines Tages fanden sie tief im Wald eine neue Fährte.
„Legolas, sieh dir diesen Abdruck an.“
Legolas kauerte sich neben sie und schaute. „Ein Wildschwein.“
sagte er. „Ein großes. Bewegt sich schnell.“
„Wo läuft es hin?“
„Nach Norden, wie wir. Nach Hause.“
„Nein... wir drehen ab und gehen eine Weile nach Osten.
Es ist Thranduils Wille. Niemand nähert sich absichtlich
einem Wildschwein, es sei denn in einer Jagdpartie von sechs
Mann.“
„Oder mehr. Und mit einer Fallgrube obendrein, wenn ich
die Wahl hätte.“ fügte der Bogenmeister hinzu.
„Es ist eine gute Regel.“ sagte Jägerin. „Einmal
sah ich ein Kind aus einem Dorf etwa einen halben Tagesritt
südlich von hier. Es war schwer verletzt und dem Tode nahe.
Die Sterblichen hatten den Kleinen zu uns gebracht, aber wir
konnten ihm nicht helfen. Das Fleisch des Jungen war zerfetzt....er
blutete sich schreiend zu Tode. Ich werde das niemals vergessen.
Wildschweine sind schnell und gefährlich. Sie sind um ein
Vielfaches größer als ein Kind. Sie können einen
erwachsenen Elb mit Leichtigkeit umbringen. Du musst sie ernstnehmen,
Legolas.“
Legolas nickte. „Ich nehme alle meine Bogenschießlektionen
ernst.“
„Du brauchst einen Sauspieß, um mit einem Wildschwein
fertig zu werden.“ sagte Berengil. „Der Bogen nützt
dir nichts. Immerhin, ich werde dir den doppelten Pfeilschuss
beibringen. Der ist nützlich gegen allzu große Feinde...
oder gegen besonders eigensinnige.“
Der doppelte Pfeilschuss bedeutete, dass man zwei Pfeile gleichzeitig
einlegte und losließ. Einen Teil der Technik eignete sich
Legolas so schnell an, dass er ihre Wirksamkeit anzweifelte.
Er konnte zwei Pfeile fast so schnell mit zwei Schüssen
abfeuern wie mit nur einem. Dann begriff er, dass mehr an der
Sache dran war. Wenn er die Haltung seiner Finger änderte,
konnte er dafür sorgen, dass die Pfeile dicht nebeneinander
einschlugen, oder um eine Fingerbreite auseinander. Das war
eine Herausforderung. Legolas übte doppelte Pfeilschüsse
in ein Astloch von einem abgestorbenen Baum. Beide Pfeile gleichzeitig
in das Astloch zu schießen war einfach. Einen Pfeil auf
jede Seite neben das Astloch zu zielen, und das mit nur einem
Schuss, war schwer. Legolas ging all seine Bogenschießlektionen
noch einmal durch; diesmal benutzte er die Technik des doppelten
Pfeilschusses, um die Pfeile voneinander zu trennen.
Der Bogenmeister ließ Legolas an den Zwischenwettbewerben
teilnehmen, und er gewann sie alle. Mittlerweile war der gesamte
Hof interessiert. Die fortgeschrittenen Schützen traten
gegen ihn an und Legolas besiegte nach und nach jeden einzelnen,
der nicht beim Bogenmeister in die Lehre gegangen war.
Der Prinz brauchte keine Anleitung, wie man sich leise auf
der Fährte bewegte, wie man sich abseits vom Wind hielt
oder sich unsichtbar machte. In der Jagd von Kleinwild bis zur
Größe des Rothirsches konnte er mit den Erwachsenen
mithalten. Deshalb genossen alle vier – Jägerin und
ihr Mann, der Bogenmeister und Legolas – ihre Ausflüge
in den Wald. Allerdings konnten sie nicht jeden Tag jagen –
sie hätten den Wald sonst allzu sehr beansprucht und das
Gesetz der Notwendigkeit verletzt. Also setzte der Bogenmeister
Legolas an den jagdfreien Tagen auf den Pferderücken.
„Jetzt stehen die Ziele still und du bist es, der sich
bewegt.“ sagte er. Also durchlief Legolas einmal mehr
all seine Übungen, diesmal auf seinem Pferd Golden. Zum
ersten Mal war Legolas mit seinen Fortschritten nicht zufrieden.
„Du machst einen großen Schritt nach vorne.“
meinte der Bogenmeister. „Du versuchst, beim Schießen
zwei Pfeile voneinander zu trennen, und du beginnst mit deinen
Übungen auf dem Pferderücken. Beides ist schwer. Lern
erst das eine und dann das andere.“
Legolas glaubte nicht, dass es daran lag. Etwas anderes war
falsch und er wusste nicht, was es war. Er fing an, darüber
nachzubrüten.
*****
Der wilde Eber, den sie im Wald umgangen hatten, lief weiter
nach Norden. Er hatte ein gewisses Empfindungsvermögen,
wie viele der größeren Tiere in Mittelerde. In seinem
schweinischen Geist hielt er sich selbst für den Herrscher.
Die Menschen hatten ihn mit ihren besonders trainierten Spürhunden
vom Dorf weggejagt. Herrscher hasste es, vertrieben zu werden,
denn er wollte die zahmen Sauen bespringen und ihre Ferkel dann
in die Wälder zurücktreiben, wo sie verwildern würden.
Die Sterblichen hätten es vorgezogen, ihn einzufangen und
für die Tafel zu mästen, aber Herrscher war so groß
und so gefährlich, dass es das Risiko nicht wert war, dabei
ausgebildete Hunde und Männer zu verlieren.
Von den Spürhunden gehetzt zu werden, versetzte Herrscher
in Zorn. Der einzige Grund, dass er sie nicht umbrachte, war
der, dass die Spürhunde nach den Jägern bellen würden,
wenn er anhielt, um mit ihnen zu kämpfen. Er wusste dies
aus schmerzhafter Erfahrung. Sein rechtes Ohr war in diesem
Augenblick eingerissen und peinigte ihn seit einer Begegnung
mit einem Jagdhund. Herrscher wollte bleiben und noch mehr von
den zahmen Sauen besteigen; danach wollte er die Ferkel in die
Wälder führen. Er wollte die reichlichen Überrreste
fressen, die sich rings um die menschliche Ansiedlung finden
ließen. Er hätte gern noch einmal Kinderfleisch gekostet.
Aber er setzte seinen Weg fort, kochend vor Wut. Er verfluchte
Menschen und Hunde in schweinisch-schwarzer Sprache, während
er nordwärts zog.
*****
An diesem Abend hielt sich Legolas in Thranduils Hallen auf,
und zwar in den Räumlichkeiten, die dem Gebrauch der Familie
vorbehalten waren. Thranduil hatte seinen Hof ursprünglich
in den Höhlen eingerichtet, die der rauschende Strom in
den Untergrund gegraben hatte. Diese Höhlen wurden noch
immer in Zeiten der Gefahr benutzt, so wie in den folgenden
Jahren bei der Begegnung mit Bilbo und den Zwergen. Nichtsdestoweniger
fühlten sich Waldelben oberhalb des Erdbodens glücklicher,
und vor langer Zeit hatte der König eine größere
Halle Höhlen gebaut. Hier hatte jedes Familienmitglied
sein eigenes Zimmer für sich. Das gemeinsame Familienzimmer
war größer. Es standen keine Betten darin, statt
dessen Tische, Stühle und Regale für Bücher.
Dicht am Kamin befand sich so etwas ähnliches wie eine
Weintheke und ein großes Sofa. Legolas lag auf diesem
Sofa ausgestreckt, das goldene Haupt auf einer Seitenlehne,
die Arme über dem Kopf, das rechte Bein auf der Sitzfläche,
den linken Fuß auf dem Fußboden. Legolas räkelte
sich nicht herum wie ein menschlicher Junge, der selbst noch
das gepflegteste Zimmer aussehen lassen konnte wie ein ungemachtes
Bett. Er streckte sich wie eine Katze, und er dachte nach.
Sein Vater und seine Mutter, Thranduil und Elsila, standen
auf der anderen Seite des Raumes Arm in Arm auf dem Balkon.
Hier öffnete sich die Halle geradewegs zum Wald, ein Ausblick,
der den Waldelben unendlich mehr gefiel als der in eine Steinhöhle.
Der Strom trennte den Rasenstreifen vom Wald und erfüllte
die Luft mit seiner vielgeliebten Musik. An der entfernten Seite
des Stromes hatten die Elben eine kreisrunde Lichtung geschaffen.
Sie nutzten sie, um dort zu singen, zum Geschichtenerzählen,
für Picknicks und als Freiluft-Schulzimmer. Legolas hörte
den Gesang vieler Stimmen, während er dalag und die Kunst
des doppelten Pfeilschusses vom Pferderücken bedachte.
Elwen kam herein, wie üblich in Hose und Hemd gekleidet.
Sie begrüßte ihre Mutter und küsste sie; sie
grüßte ihren Vater und küsste ihn ebenfalls.
Dann ging sie zu Legolas hinüber, zog ihn an den Haaren
und schob sein linkes Bein ohne viel Federlesens auf das Sofa.
Sie lehnte sich gegen die andere Armlehne, streckte ihre Beine
in seine Richtung aus und stieß ihre Füße gegen
die seinen.
Legolas setzt sich halb auf. Sie schauten einander an, gestiefelter
Fuß gegen gestiefelten Fuß.
„Was machst du da?“ fragte er.
„Dich auf mich aufmerksam machen. Ich habe dich heute
nicht beim Abendessen gesehen, und gestern auch nicht. Bestraft
Berendil dich gerade für irgendeine Nachlässigkeit
auf dem Feld?“
„Tut er nicht. Ich bin mit Golden ausgeritten. Nebenbei
- der Bogenmeister bestraft keine Schüler. Er verlangt
von uns, dass wir unsere Schwächen überwinden."
„Aber Berendil sagt mir, du hätten schon einige
Zeit keine Schwächen mehr gezeigt.“
„Ich spüre, dass ich etwas falsch mache, aber ich
kann nicht sagen, was es ist.“
Thranduil fing an, dem Gespräch zu lauschen. Es war seine
Pflicht und seine Freude, die Kinder zu erziehen, während
sie ihre Eigenheiten entwickelten. Dass sein Jüngster versprach,
ein Wunderkind mit dem Bogen zu werden, war so befriedigend
wie faszinierend. „Wie macht er das?“ fragte er
Berendil einmal.
„Auf dreierlei Art. Zuerst einmal hat er einen überragenden
Weitblick und kraftvolle Hände. Zum zweiten ist er blitzgescheit.
Er lernt schnell und behält alles im Gedächtnis. Jeder
Schuss, jede Jagd, jede Lektion nützt ihm bei der nächsten.
Deshalb übt er auch so viel – er hat gerne die Erfahrung,
auf der er aufbauen kann. Aber diese Dinge kann man über
die meisten Künste der Elben sagen. Zum dritten –
vergib mir, meine Schilderung wird ihm nicht gerecht –
er bringt die Dinge besser zusammen als die meisten. Er nutzt,
was er über die Entfernung und den Wind weiß, so
dass er den Pfeil nicht dorthin schickt, wo das Ziel ist, sondern
eigentlich dahin, wo er glaubt, dass es sein wird. Wenn ich
schieße, ziele ich mit dem Auge. Wenn Legolas schießt,
leitet er den Pfeil mit seinem Geist. Das ist seine Gabe.“
„Wenn ich vom Pferderücken aus schieße, dann
ist Golden zu sanftmütig.“ sagte Legolas gerade.
„Ich kenne ihren Gang zu gut. Ihre Schritte sind regelmäßig.
Ich weiß ganz genau, wie... ich meine, wie viel...“
Er rang darum, seine Gedanken auszudrücken. „ich
weiß, wie ich meinen Schuss einrichten muss, wenn ich
ihre Bewegung mit einberechne. Wenn ich über die Anpassung
nicht nachdenken muss, kann ich nicht besser werden.“
„Was sagt Berendil dazu?“
„Er sagt, dass ich ein lebhafteres Pferd reiten sollte,
wenn ich größer und stärker bin.“ Legolas
machte keinen Versuch, sein Missvergnügen angesichts dieses
Ratschlages zu verbergen. Elben entwickeln sich während
ihrer Kindheit viel langsamer als Menschen, und Legolas war
noch Jahre von seiner vollen Größe entfernt.
„Er stellt den Bogenmeister in Frage!“ dachte Thranduil
heimlich für sich.
„Vielleicht hast du gewissermaßen eine höhere
Ebene erreicht.“ sagte Elwen. „Du hast noch keinen
Tag ausgeruht, seit du angefangen hast, von Berengil zu lernen.
Das verlangt er nicht von dir. Setz morgen einen Tag aus. Vielleicht
gibt dir das einen ganz neuen Einblick.“
„Ich mag das Üben, Schwester. Aber vielleicht hast
du recht. Was können wir machen?“
„Lass uns ein Picknick auf der Lichtung veranstalten,
und nach Sonnenuntergang singen wir ein paar Lieder. Morgen
haben wir Gäste aus Lothlórien! Ein Reiter ist gerade
angekommen. Ich war hier, um es Vater und Mutter zu sagen, und
dann fiel mir ein, dass ich mit dir reden wollte.“
„Es wird gut sein, sie hierzuhaben.“ sagte Königin
Elsila. „Ich gehe und begrüße den Reiter. Gute
Nacht, meine Lieben.“
Thranduil sagte mit einiger Verspätung: „Kinder,
nehmt eure Füße vom Sofa. Und du, Tochter, hör
auf, deinen Bruder in Unruhe zu versetzen.“
„Dann muss ich mich auch verabschieden.“ antwortete
sie mit einem Lächeln. „Soll ich einen Pagen schicken,
um unsere Wachen im Süden zu beachrichtigen?“
Legolas sagte: „Ich werde gehen. Es ist eine schöne
Nacht für einen Ritt. Gute Nacht, alle zusammen.“
*****
Der Reiter aus Lothlórien war nicht der einzige Besucher,
der Thranduils Grenzen in dieser Nacht überquerte. Herrscher
folgte ihm kurze Zeit später, mit Blut auf seinen Hauern
und in seinem Geist. Zuletzt hatte er einen halb ausgewachsenen
Wolfswelpen getötet, der das Pech gehabt hatte, dass er
ihn in einem unbewachten Augenblick antraf. Das unerfahrene
Tier hatte die Nase in einen Schlammloch vergraben, um eine
schmerzende Abschürfung auf seiner Schnauze zu kühlen.
Als er den Eber witterte, war es zu spät, irgendetwas zu
tun... außer zu sterben. Herrscher schlitzte den Wolfswelpen
von der Brust bis zum Unterleib auf und zerfleischte die hervorquellenden
Eingeweide. Der letzte Atemzug des Welpen war ein einziger Schrei.
Herrscher stand über dem toten Welpen. Sein aufgerissenes
Ohr pochte. Er nahm das Ohr des Welpen ins Maul und kaute darauf
herum, bis es blutete. Rache schmeckte gut. Dies war zwar kein
Hund, aber es war dicht genug dran.
*****
Als Legolas die Halle verließ, hatte er einen Plan. Nachdem
er die Wachen angewiesen hatte, nach ihren Gästen Ausschau
zu halten, würde er noch etwas mehr auf dem Pferderücken
üben. Und er würde sich den Rat des Bogenmeisters
zu Herzen nehmen... ein wenig vor der Zeit. Er würde ein
lebhafteres Pferd reiten. Genauer gesagt – er würde
Fëanor (Feuriger Geist) reiten, das Pferd seines Vaters.
Ohne auch nur einen Gedanken an Heimlichkeit zu verschwenden,
führte er Fëanor aus dem Stall, durch den Fluss und
über die Lichtung. Mehrere Elben winkten und riefen ihm
etwas zu, aber er ging weiter. Er wollte Fëanor an seine
Gegenwart gewöhnen, bevor er aufstieg. Als Legolas erst
einmal oben saß, war es ein hartes Stück Arbeit für
ihn, sein Reittier im Schritt zu halten. Thranduil war über
sechs Fuß groß und hatte sein Schlachtroß
nach Stärke, Größe und Lebhaftigkeit ausgesucht.
Legolas dagegen war für einen Zwölfjährigen recht
klein geraten. Da Fëanor bei jeder Gelegenheit in Trab
fiel, dauerte es nicht lange, bis er auf den Kadaver des aufgeschlitzten
Wolfswelpen stieß.
Er erinnerte sich an die Weidmannskunst und stieg ein gutes
Stück entfernt ab, um die Fährte nicht zu zerstören.
Als er etwa auf halbem Weg zwischen dem toten Welpen und Fëanor
war, sah er die Spuren und die Verletzungen. Dann wusste er
Bescheid. Das Wildschwein.
In diesem Moment hörte er ein Rascheln im nahen Gehölz.
Er stand vollig still.
*****
Herrscher war da. Und er war hocherfreut, denn abgesehen von
dem Pferd war Legolas allein. Wildschweine können natürlich
nicht zählen, aber Herrscher kannte die „Sechser-Regel“
ebenso gut wie Jägerin. Er konnte leicht den Unterschied
spüren zwischen sechs Jägern, die ihn überwältigen
konnten und fünfen, die es nicht konnten. An diesem Abend
wusste er, dass da das Pferd war, und nur noch einer mehr. Kein
Mensch, nein... aber es war dicht genug dran.
Legolas bewegte nur die Augen und schätzte den Abstand
zu Fëanor. Er nahm an, dass der Eber genauso weit von Fëanor
entfernt war wie er selbst, aber auf der anderen Seite. Er hatte
seinen Bogen und die Pfeile, aber er wiegte sich nicht in dem
Glauben, dass sie ihn vor einem angreifenden Wildschwein schützen
würden. Seine einzige Chance war, vor dem Angriff Fëanor
zu erreichen und dann zu reiten wie der Wind. Er war ziemlich
sicher, dass das große Pferd schneller laufen konnte als
der Eber... oder dass es wenigstens imstande war, zu überleben.
Wenigstens hoffte er das.
Feänor fing bereits an, ein wenig herumzutänzeln,
als ihm der Geruch nach Wildschwein und Blut in die Nüstern
stieg.
Legolas tat einen tiefen, aber sehr leisen Atemzug. Dann machte
er seine Bewegung, einen plötzlichen Satz in Richtung der
Steigbügel. Er sprang wie eine Katze auf den Pferderücken
und schrie: „Noro lim!“ Und Fëanor galoppierte
wie verrückt.
Herrscher war ihm dicht auf den Fersen. Sie flohen den Pfad
hinunter; Fëanor konnte nicht entkommen, und Herrscher
konnte sie nicht einholen. Legolas befand sich in einem Rausch
der Angst. Er wusste, dass eine einzige falsche Bewegung oder
der Verlust des Gleichgewichts ihn direkt dem Eber in den Weg
schleudern würde. Er vergrub sein Gesicht in Fëanors
Mähne und wich den peitschenden Zweigen aus. Der Wind fegte
durch sein Haar, während sie durch den Wald brachen, und
– er genoss das doch nicht etwa? Er ließ Fëanor
laufen, wo er wollte, denn er wusste, dass er der Sicherheit
seiner Ställe zustrebte. Aber in all seiner Panik, seiner
Erregung und Unerfahrenheit vergaß er, dass zwischen dem
Wald und den Stallungen die Lichtung lag, und die Lichtung war
voller Elben. Sie hielten genau darauf zu.
*****
„Haldir, komm doch bitte zu uns in den Familienraum.“
sagte Thranduil. „Wir wollen auf dem Balkon einen Becher
Wein trinken.“ Elwen goss ein und Thranduil bediente zuerst
seinen Gast, dann Elsila, Elwen und sich selbat. Die Nachtluft
wehte durch die offenen Balkontüren und brachte den Gesang
derer mit sich, die sich auf der Lichtung versammelt hatten.
Die vier erhoben ihre Becher zu einem schweigenden Gruß
an die Sterne.
Jägerin und ihr Mann Galadel waren unterhalb von ihnen
auf der Wiese. Berendil hatte den Fluss gerade auf den schlüpfrigen
Steinen überquert, die als Brücke dienten –
jedenfalls für Elben. Jeder andere wäre ziemlich schnell
ins Wasser gerutscht. Die Sänger beendeten einen wehmütigen
ann-thennath an das Sternbild des Schmetterlings (unsere Cassiopeia).
Ihre Stimmen erstarben unter den Geräuschen des Stromes
und der Wälder.
Auf dem Rasen sagte Jägerin: „Was ist das?“
Auf dem Balkon fragte Elwen: „Erwartest du noch mehr
Reiter, Haldir?“
Jenseits des Stromes rannte Berendil dem Geräusch entgegen.
„Etwas kommt hierher!“
In diesem Moment brach Fëanor in vollem Lauf aus dem entfernten
Ende der Lichtung; sein Schweif flatterte hinter ihm und Legolas
klammerte sich an seinen Rücken. Es sah aus, als würden
sie kopfüber in Berendil hineinkrachen, aber Berendil duckte
sich und Fëanor scheute halb, und halb sprang er über
ihn hinweg. Berengil spürte die Hitze des großen
Pferdes und hätte seine Hufe berühren können.
Auf beiden Seiten spritzten die Elben auseinander, denn jetzt
lag Herrscher nur noch knapp zehn Schritte zurück, und
er war gekommen, um zu töten.
Ein einzelnes Mädchen stand wie eingefroren auf einem
Fleck rechts von Berendil. Er langte nach dem Kind, hob es hoch
und warf den kleinen Körper in Richtung Strom. Dann wandte
er sich dem angreifenden Eber zu. Er konnte noch denken: O Elbereth,
Dank sei dir für Deine Gnade... , während er rings
um sich hier die unbeschirmten Gedanken der entsetzten Elben
hören konnte: Mandos’ Hallen... Mandos’ Hallen...
Die Zeit verlangsamte sich für ihn und der Eber kam näher.
Dann drehte Legolas sich um, wendete Fëanor und fing an
zu schießen.
Berendil hörte das Singen des Bogens (bei diesem Geräusch
dachte er stets an Gesang) und das Ssswppp! von Pfeilen. Sie
zischten rings um seinen Kopf und fast durch seine Haare. Dann
sah er einen eigenartigen und wundersamen Anblick: Herrscher
waren rings um seinen Kopf und die Schultern irgendwie dicke,
grüne Borsten gewachsen. Er griff nicht länger an.
Im Sterben krachte er in Berengil hinein... aber als totes Gewicht,
nicht als lebende Furie.
Dann passierten gleich mehrere Dinge: Das Mädchen kam
am Flussufer auf die Beine und fing an zu weinen. Jägerin
und ein paar andere rannten zu ihr, um sie zu trösten.
Oben im Familienraum fiel die Königin zum ersten und einzigen
Mal in ihrem langen Leben in Ohnmacht. Thranduil konnte sich
kaum genügend zusammennehmen, um sie aufzufangen. Fëanor,
der die ganze Angelegenheit satt hatte, schlug mächtig
mit den Hinterläufen aus und kippte Legolas in den Fluss.
Galadel kam zu Berengil, der unverletzt geblieben war. Wären
wir dort gewesen, hätten wir zweifellos Dinge gesagt wie
„Schau dir das an!“ oder „So etwas habe ich
noch nie zuvor gesehen!“ Nun haben Elben wenig Neigung
zu solchem Geschwätz, noch haben sie es nötig, denn
sie können von Natur aus Gedanken lesen. Nichtsdestoweniger
sagte Galadel einen Augenblick später: „Schau dir
das an!“. Und Berendil erwiderte: „So etwas habe
ich noch nie zuvor gesehen!“ Und dies war es, was sie
sahen:
Legolas hatte, nachdem er Fëanor gewendet hatte, innerhalb
von vier Sekunden fünf Schüsse losgelassen: Der erste
war ein Doppelpfeilschuss gewesen. Jeder der beiden Pfeile hatte
ein Auge durchbohrt und war auf der Stelle tödlich. Aber
immer noch war der Eber herangekommen. Legolas hatte sich in
den Steigbügeln aufgerichtet und einen einzelnen Pfeil
in den Nacken des Schweines geschossen, der den Strang des Rückenmarks
verletzte. Dies machte Herrscher beträchtlich langsamer.
Dann hatte Legolas sich wieder in den Sattel fallen lassen,
sich zur einen Seite hinuntergelehnt und einen weiteren Pfeil
abgeschossen, der von vorn die Kehle durchbohrte. Endlich beugte
er sich gefährlich zur anderen Seite hinunter und platzierte
einen Pfeil in Herrschers Ohr.
Jemand sprang vom Balkon in die nächststehenden Bäume
und schwang sich auf den Rasen hinunter. Es war Elwen. Sie rannte
über die Steine im Fluss zu der Stelle hinüber, wo
Legolas noch immer im Wasser saß.
„Du bist verletzt!“ sagte sie. „Du hast dir
die Hand an den Felsen geschnitten – es blutet!“
Legolas hielt seine Hand in den Fluss, um sie zu säubern,
bevor er aufstand. Der Schnitt war gar nichts – eine Stunde
später würde er geheilt sein (Ein Stichling im Fluss
trank sein Elbenblut im Wasser und lebte nach diesem Vorfall
noch zehn weitere Jahre).
Elwen schlenderte zu Berendil und Galadel hinüber und
warf einen Blick auf Herrscher. „Das ist der alte Fangzahn.“
stellte sie fest. „Der, der dieses Kind umgebracht hat.
Ich nehme an, den werden wir wohl nicht essen.“
„Legolas, jeder einzelne dieser Schüsse wäre
mir unmöglich gewesen.“ sagte Berendil.
„Mein Bruder, ein solches Schießen habe ich noch
nie gesehen.“sagte Elwen. „Das ist wirklich wundervoll.
Übrigens, Vater will dich in seinem Zimmer sehen. Ich glaube,
er ist besorgt.“ Das war eine glatte Untertreibung des
Zustandes, in dem sich Thranduil augenblicklich befand.
„Ja. Würdest du Fëanor für mich einfangen
und dich um ihn kümmern? Und ihm ein paar Äpfel extra
geben? Er hat mir das Leben gerettet.“
„Und du hast das meine gerettet.“ sagte Berendil.
„Nachdem ich es zuerst in Gefahr gebracht habe.“
sagte Legolas. „Ich bitte dich um Vergebung.“
Jetzt stieß Haldir zu der Gruppe; er war Elwen bei ihrem
Abstieg über die Bäume gefolgt. Als er den Eber sah,
schüttelte er den Kopf. „ich dachte, Berendil und
du, ihr wäret auf dem Weg in Mandos’ Hallen, und
das Pferd wahrscheinlich auch. Dies ist wunderbare Bogenschießkunst,
vor allem vom Rücken eines solchen Ungetüms. Oh, und
ich habe eine Botschaft von Thranduil. Er möchte...“
„... mich in seinem Zimmer sehen, ich weiß.“
sagte Legolas.
„Wahrscheinlich will er mich auch sehen.“ sagte
Berendil mit einem Grinsen. „Also, Herr Legolas, ich werde
mit dir kommen.“
„Ich habe keine Angst davor, in das Zimmer meines Vaters
zu gehen.“ sagte Legolas, schüttelte sich, um die
Wassertropfen loszuwerden und versuchte, ein wenig präsentabler
zu wirken. „Aber deine Gesellschaft ist mir stets willkommen,
Bogenmeister. Lass uns gehen.“
*****
Wären wir Sperlinge auf dem Fensterbrett, dann hätten
wir Thranduil allein in seinem Zimmer gesehen, wesentlich gefasster,
als wir es unter ähnlichen Umständen gewesen wären.
Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass der Augenblick zu
ihm zurückkam, als Berendil, das Kind und Legolas beinahe
ums Leben gekommen wären. Die Angst nährte seinen
Zorn, und er hatte damit zu kämpfen.
Als das Klopfen an der Tür erklang, sagte er: „Kommt!“
Legolas und Berendil kamen herein.
„Legolas, was hast du getan?“ sagte Thranduil.
Es ist meine Schuld, Thranduil, sagte Berendil, den Geist abgeschirmt.
Ich bin derjenige, der ihm die Idee in den Kopf gesetzt hat.
Thranduil warf Berendil einen Blick zu, der so bedeutungsschwanger
war wie nur irgendeine gedankliche Unterredung, und er wandte
sich Legolas zu.
„Sprich, Legolas.“
„Vater, ich habe dein Pferd geritten, um mit der Waffe
zu üben, weil mein eigenes Pferd zu sanftmütig ist.
Ich habe nicht um Erlaubnis gebeten.“ Dann berichtete
er, wie er den toten Wolfswelpen gefunden hatte, und von der
Verfolgung durch den wilden Eber. „Ich habe Fëanor
seinen Willen gelassen, und er lief wie der Wind. Ich habe nicht
an die Gefahr auf der Lichtung gedacht, bis wir dort waren.“
„Du hättest Fëanor niemals meistern können,
ob du die Gefahr rechtzeitig erkannt hättest oder nicht.
Du bist mir wie eine Distel vorgekommen auf diesem Pferd. Drei
Tode habe ich heute Abend nahen sehen – deinen, den von
Berendil und den des Kindes. Deine Mutter wird vielleicht nie
wieder die selbe sein. Was soll Haldir von uns halten, wenn
unser Prinz eine solche Missachtung zeigt?“
„Thranduil,“ sagte Berendil, „Legolas hat
mein Leben gerettet, sein eigenes und das des Kindes. Niemand
ist tot oder auch nur verletzt. Wenn er auf Goldens Rücken
gesessen hätte, als er das Wildschwein fand, wäre
er nicht entkommen. Und nie habe ich eine solche Schießkunst
gesehen. Er hat mich überholt.“
„Unsinn. Er ist ein Kind. Er kommt nie und nimmer an
deine Erfahrung und dein sicheres Urteil heran, wie du hoffentlich
bemerkt hast.“
„Was die Erfahrung und das Urteil angeht, bin ich der
Meister. Wenn es darum geht, einen Pfeil dorthin zu schicken,
wo er ihn haben will... da hat Legolas mich überholt, und
er wird nur noch besser werden. Du solltest ihm besser den Umgang
mit noch einer andern Waffe beibringen. Eines Tages wird er
ein Krieger sein, und dann wird er neben seinem Bogen auch eine
Klinge brauchen.“
Ich stimme dir zu, mein Freund. sagten Thranduils beschirmte
Gedanken. Ich werde ihn bald zu Klingensängerin in die
Waffenmeisterei schicken.
Laut (und höchst erzürnt) sagte Thranduil: „Lass
uns allein, Bogenmeister.“ Berendil verneigte sich und
ging hinaus.
„Legolas, du bist fehlgegangen und hast uns in große
Bedrängnis gebracht. Ich könnte dich dafür prügeln
lassen, dass du auf diese Art deinen Hals riskiert hat, mein
Sohn.“
Legolas verneigte sich. „Zu deinen Diensten, mein Herr
Vater. Aber nur von deinen Händen allein will ich das ertragen;
jeder andere sollte sich davor hüten.“
Berendil belauschte diesen Wortwechsel von außerhalb
des Zimmers, wo er schamlos herumtrödelte.
Ausgezeichnete Antwort, Thranduil. Ich glaube, Jung-Legolas
wird erwachsen.
„Oh, raus mit dir!“ sagte Thranduil. „Berendil
wird sich eine Strafe für dich ausdenken. Halt dich fern
von meinem Pferd und gib in Zukunft besser auf dich acht.“
Legolas verneigte sich noch einmal. „Ich liebe dich auch,
Vater.“
Thranduil beobachtete, wie er hinausging. Eines Tages wird
Legolas’ Tapferkeit einem hohen Ziel sehr dienlich sein.
dachte er. |