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H. JÜRGENSEN - "ELTERNLIEBE"

Sie ist abnorm. Das ist der Grund, warum sie in der Dunkelheit hausen muss. Sie ist befleckt. Ihre Welt besteht aus fünf mal zehn Schritten, die sie Tag um Tag, Jahr um Jahr geht. Früher waren es mehr Schritte, als sie noch kleiner war, doch sie kann nicht mehr als bis zehn zählen, nie hat sie es gelernt. Früher – sie erinnert sich an eine Zeit, an Sonnenlicht in dem von hohen Zäunen beschützten Garten des Hauses, in dessen Keller sie nun versteckt leben muss. Sie erinnert sich an ihre Eltern, an liebevolle Stunden, an Ballspiele und einfache Freuden, so unendlich lange her. Es war eine Zeit, bevor ihr Makel sichtbar wurde, bevor ihre Eltern beschlossen, sie zu ihrem eigenen Schutz zu verstecken, damit niemand sie sehen und wegen ihrer Abnormität Schlimmes antun würde. Sie tastet über ihr Gesicht, ihre zu großen Ohren, ihre kleinen Augen. Ihre Finger streichen über ihre Zähne, scharf und klein. Sie ist anders geraten als ihre Eltern und hat daher ihr Entsetzen hervorgerufen.

Wie so oft geht sie in ihrem Kerker auf und ab, misst mit ihren Beinen die Strecke von einer Mauer zur anderen und wieder zurück. Nachts verraten der leise Widerhall und ihr Atem, wann sie stoppen muss, um sich nicht den Kopf zu stoßen. Am Tag offenbart ihr ein dünner Lichtstrahl ihre Umgebung: der Raum aus Holzbalken und fest gestampftem Lehm, in dessen Ecke ein mit Stroh gefüllter Sack und eine Decke aus Schaffell ihre Lagerstätte bilden, die hölzerne steile Treppe, an deren Fuß sich ihr Abort in Form eines einfachen Eimers sowie eine Schale mit Wasser zum Trinken und Waschen befinden, am oberen Ende eine schwere Holztür, die zu den Räumen ihrer Eltern führt.

Ihre Eltern. Ihr Vater ist ein gerechter Mann. Er war es, der beschlossen hatte, sie einzusperren. Er muss gerecht sein, denn Gerechtigkeit zu üben ist der Beruf ihres Vaters. Es gibt Tage, an denen er gerufen wird und das Haus verlässt, in seiner Hand eine nahezu mannshohe, schwere zweischneidige Axt, über seinem Kopf eine lederne Kapuze mit lediglich zwei Schlitzen für die Augen. Als sie noch klein gewesen war und das Tageslicht sehen durfte, hatte ihre Mutter ihr erzählt, dass seine Kleidung und die Axt den anderen Bewohnern in der Umgebung Angst einflößen und sie daher weit ab von allen anderen Menschen lebten.

Ihre Mutter. Sie hat ein gutes Herz. Sie war es, die ihren Vater dazu überredet hatte, sie nicht zu töten, sondern zu verstecken. Wenn ihr Vater Gerechtigkeit üben muss, ist er manchmal für viele Stunden oder Tage fort. Ihre Mutter singt dann manchmal mit ihrer sanften Stimme für sie vor der schweren Tür, und sie lauscht dann mit Tränen in den Augen unten auf dem kahlen Boden des Kellers sitzend. Ihr Vater hatte seiner Frau einst verboten mit ihr zu sprechen, also singt sie, wenn er fort ist. Das ist nicht verboten.

Sie stellt sich auf ihren Strohsack, sodass ihr Kopf beinahe die niedrige Holzdecke berührt, und blickt durch ein kleines Loch nach draußen. Sie selbst hat es in langer und mühseliger Arbeit durch den harten Lehm und das Flechtwerk gegraben, um wieder das Licht sehen zu können. Sie blickt auf volles, grünes Gras, durch das sie, wenn es sich leicht im Wind bewegt, einen Teil des Brunnens und des hinteren Zauns des Gartens erspähen kann. Der Garten, in dem sie die schönsten Stunden ihrer ersten Sommertage verbringen durfte, schon damals abgeschirmt von Außen. Es waren solche Sommertage wie heute.

Die Stimmen ihrer Eltern, die leise durch die Tür am oberen Ende der Treppe dringen, erwecken sie aus ihrer Gedankenversunkenheit. Rasch stopft sie einen Brocken mit ihrem Speichel angefeuchteten Lehms vor das Loch und springt von dem Sack. Sie will nicht, dass ihr Vater es entdeckt, wenn er ihr Essen brächte. Sie hat Hunger und hofft, dass er ihr etwas Warmes mitbringen wird. Meistens ist ihre Speise kalt und klebrig. Doch die Tür öffnet sich nicht, und sie weiß auch, dass es nicht die richtige Zeit ist, da er immer nur nachts zu ihr kommt. Vereinzelte Gesprächsfetzen verraten ihr, dass ihr Vater seine Arbeit tun müsse. Sie lauscht seinen schweren Schritte über ihr, hört das Knarzen, wie sich ein großer Schrank öffnet, ein dumpfer Ton erklingt, als er seine große Axt mit dem Kopf voran auf den Boden stellt. Vielleicht wird er nur wenige Stunden fort sein, vielleicht ein paar Tage, je nachdem wie weit er diesmal bis zu seiner Arbeit gehen muss. Als er das Haus verlassen hat, hört sie wie ihre Mutter den Stuhl vor die Tür zu ihrem Gefängnis schiebt und zu singen beginnt. Sie verlässt nie das Haus, ist wie ihre Tochter eine Gefangene, auf die oberen beiden Räume und den Garten beschränkt. Auf dem Boden sitzend, die Arme um die Knie geschlungen und leise weinend schläft sie bei den sanften Tönen der Mutter ein.

Sie erwacht, als ihr Vater zurück kommt. Es ist anders als sonst, das spürt sie sofort. Er brummt ärgerlich, und ihre Mutter flüstert mit besorgter und ängstlicher Stimme. Vielleicht ist etwas verkehrt gelaufen, vielleicht bei der Arbeit. Sie hört, wie ihr Vater etwas über den Boden schleift, in den anderen oberen Raum hinein geht, gefolgt von seiner Frau, die unablässig auf ihn einredet. Sie versucht leise zu sein, sodass ihre Tochter nicht verstehen kann was sie sprechen, aber ihre Gefühle kann sie nicht verbergen. Die Tür zu dem zweiten Raum schließt sich und schneidet die Stimmen bis auf ein entferntes Gemurmel ab.

Sie kauert auf dem Boden und wartet. Ihr Magen beginnt zu knurren. Einmal, als sie mehrere Tage nichts zu Essen bekommen hatte, hatte sie Lehm mit Wasser gemischt und den Brei geschluckt. Das war ihr nicht bekommen, und sie tat es nie wieder. Ein anderes Mal hatte sie sich an einem dicken Käfer versucht, der über ihre bloßen Füße gelaufen war, doch als sein Panzer zwischen ihren Zähnen knackend aufgebrochen war, hatte sich ein abscheulicher Geschmack in ihrem Mund verbreitet, und sie hatte die Überreste auf den Boden gespuckt. Ihr bleibt also nur zu warten. Schließlich steht sie auf und entfernt den Brocken vor dem kleinen Loch, doch draußen ist es dunkel. Ein sanfter Hauch warmer Luft streicht über ihre Wange. Für eine Weile verharrt sie und genießt die sommerliche Abendluft.

Dann nähern sich die Schritte ihres Vaters der Kellertür, und hastig verstopft sie das Loch. Ein schwerer Riegel wird entfernt, dann erfüllt blendendes Licht ihren Kerker. In der linken Hand eine Laterne und einen Napf, über dem Handgelenk der Henkel eines Eimers, in der rechten die große Axt, klettert ihr Vater vorsichtig die Treppenstufen hinab. Sie weiß, was sie zu tun hat, um nicht grob von dem Axtkopf gestoßen zu werden, und kauert sich mit dem Gesicht zur Wand in die hinterste Ecke des Kellers. Sie hört, wie ihr Vater den Fuß der Treppe erreicht, den Napf abstellt und aus dem Eimer Wasser in ihre Schale flößt. Dann richtet er sich wieder auf und steht still. Sie spürt seinen Blick auf sich ruhen. Einen kurzen Moment stellt sie sich vor, er würde ein paar schnelle Schritte auf sie zu machen, mit seinen kräftigen Armen mühelos die schwere Axt heben und auf sie niedersausen lassen. Ihr Nacken würde nur einen geringen Widerstand leisten, ihr Kopf von ihren Schultern und auf den Boden rollen. Instinktiv ist sie sich sicher, dass ihr Vater dazu fähig ist. Doch sie spürt auch, dass er diese Tat nie ausführen würde. Er könnte sich über das Flehen seiner Frau hinwegsetzen, doch die elterliche Liebe zu seiner einzigen Tochter verbietet diesen Mord. Er wird ein paar Augenblicke besorgt, ärgerlich, enttäuscht und traurig auf sein eigenes Fleisch und Blut blicken und sich dann zum Gehen wenden. Und so wie so unzählige Male zuvor auch geschieht es. Sie atmet auf.

Als das Poltern des Riegels, der sich wieder vor die Kellertür senkt, verhallt ist, wagt sie sich umzudrehen und in der Dunkelheit tastend auf den Napf zuzukriechen. Erst nimmt sie einen Schluck Wasser, dann verschlingt sie gierig ihr Essen. Wieder ist es kalt, doch ihr Hunger ist so groß, dass sie es dennoch genießt. Als sie ihr Mahl beendet hat und die letzten Reste von ihren Fingern leckt, macht sich ein wohliges Gefühl in ihrem Magen breit, und zufrieden legt sie sich auf ihr Bett, um alsbald friedlich einzuschlafen.

Erneut wird sie geweckt. In der Nacht hat sie in ihrer Eile den Lehm nur unzureichend über das Loch gestopft, und ein feiner Lichtstrahl verrät ihr, dass es früher Morgen sein muss. Das Geräusch, das sie aus dem Schlaf gerissen hat und so ungewöhnlich ist, erklingt wieder: Ein festes Klopfen an der Außentür des Hauses. Sie hört, wie ihre Eltern hastig und verstohlen miteinander flüstern. Eine fremde Stimme ruft etwas. Die Schritte ihres Vaters durchmessen den oberen Raum, und seine Stimme erklingt so laut, dass sie die Worte hören kann: Wer es wage, in das Haus eines Henkers eindringen zu wollen und dadurch den Fluch seines Handwerks auf sich zu laden. Doch der Fremde vor der Tür scheint keineswegs von dieser Rede beeindruckt zu sein. In herrischem Ton fordert er Einlass. Andere Stimmen ertönen, der Fremde ist nicht allein gekommen. Sie ist verängstigt und neugierig zugleich. Noch nie zuvor ist jemand gekommen, um ihre Eltern aufzusuchen. Doch dies ist kein freundlicher Besuch. Der Schrank über ihr öffnet sich, und sie weiß, dass ihr Vater die Axt zur Hand nimmt.

Von Draußen erklingt ein bellender Befehl, dann kracht es laut an der Tür. Ihre Mutter schreit, ihr Vater ruft zornig. Ein Splittern ertönt, dann ein Knall, als die Holztür bricht. Stimmen, erstaunte Rufe, dann Schreie, dumpfe Schläge und plötzlich Wehklagen. Etwas fällt wie ein schwerer Sack zu Boden, dann noch etwas. Ihr Vater brüllt, seine Wut und seine Kraft müssen gewaltig sein. Vor ihrem inneren Auge wird sie Zeuge, wie er die Axt schwingt und die Fremden zerstückelt. Doch es müssen viele sein, viele Fußpaare trampeln über ihr, Schläge von Metall auf Metall ertönen, dann ein Triumphgeheul aus vielen Kehlen, und etwas Schweres fällt. Nun wird auch wieder das Schreien ihrer Mutter, das das gesamte Getöse über angehalten und über diesem erklungen ist, besser hörbar. Doch es soll nicht mehr lange währen, ein paar hastige Schritte, dann wird aus dem Schrei ein Gurgeln und dem Gurgeln folgt Stille.

Schließlich wird das Schweigen von einigen klaren Befehlen durchbrochen: Das Haus solle durchsucht werden, der zweite Raum und der Keller. Ängstlich drückt sie sich wieder in die Ecke, in die sie sich nur wenige Stunden zuvor verkrochen hatte, als ihr Vater ihr Essen bringen gekommen war. Sie tastet über die Lumpen, die ihren Körper bedecken, doch sie weiß, dass sie keine Waffe besitzt, und selbst wenn, dass sie mit dieser nicht umgehen könnte. Der Riegel vor der Kellertür wird hastig zurückgeschoben und die Tür brutal aufgestoßen. Das Licht des frühen Morgens durchflutet ihren Kerker, zum ersten Mal seitdem sie eingeschlossen worden war. Es brennt in ihren Augen, auch wenn sie Licht nicht gänzlich ungewohnt ist. Vorsichtige Schritte erklingen von der Treppe, und sie wendet sich mit dem Gesicht zur Wand, um ihren Mördern nicht ins Antlitz sehen zu müssen. Eine barsche Stimme, die eine tiefe Nervosität kaum zu überspielen vermag, fordert sie auf, sich umzudrehen. Als sie sich zitternd weiter in die Ecke verkriecht, spürt sie eine kalte Spitze in ihrem Rücken ihre Kleidung durchdringen und einen leichten, auffordernden Stich. Mit dem Gefühl, dass dies ihr letzter Augenblick sei, dreht sie sich langsam um.

Drei Männer stehen dort, mit fremdartigen Gesichtern, glitzernde Metallwaffen in ihren Händen. Ihre vor Anspannung verzerrten Minen lichten sich merklich, als sie sich ihnen zuwendet. Einer von ihnen ruft nach oben, dass sie eine Gefangene gefunden hätten, ein zweiter packt sie schnell, aber nicht unsanft, unter dem Arm und hebt sie mühelos vom Boden auf. Dann, nach einem letzten prüfenden Blick auf ihre Zelle, gehen sie langsam mit ihr die Treppen hinauf.

Sie ist wieder in dem oberen Bereich des Hauses, nach so langer Zeit. Sie hatte sich so oft nach diesem Moment gesehnt, und nun ist ihr jegliche Freude gestohlen worden. Blut besudelt die Wände und die wenigen Einrichtungsstücke, der Geruch hängt schwer in der Luft. Ihre Eltern liegen von großen Lachen umgeben auf dem Boden, zusammen mit zwei weiteren Leibern der Fremden, die eingedrungen sind. Ein dritter krümmt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht, seine linke Hand auf den Stumpf seines rechten Arms gedrückt, den ihm die Axt ihres Vaters abgetrennt hat. Blut dringt ihm zwischen den Fingern hervor und tropft auf den Boden, während ein weiterer Mann vor ihm kniet und mit geübter Hand Stofffetzen von einem Tuch abreißt. Einer der Leichen fehlt ein Kopf, die andere ist nahezu in der Körpermitte durchtrennt worden, Innereien sind auf dem Boden verteilt. Ihren Vater, das Gesicht wie wenn er zur Arbeit gehen würde hinter einer Kapuze verborgen, haben sie mit unzähligen Hieben niedergestreckt, ihrer Mutter die Kehle aufgeschnitten. Inmitten des Schlachtfeldes steht stolz aufgerichtet, eine längliche, schlanke, besudelte Waffe in der Rechten, ein Mann in schwarzer Kleidung mit silbern glänzenden Schnallen und mit einem breitkrempigen Hut auf dem schwarzhaarigen Kopf. Doch nicht seine feine Kleidung ist es, die ihn als Anführer der einfach wirkenden Eindringlinge kenntlich machten, sondern seine lodernden Augen, die er nun auf sie richtet.

Plötzlich schlagen die Ereignisse, das Blut, das Licht, das Grauen in dem Zimmer mit aller Macht über sie herein. Haltlos sinkt sie zu Boden und übergibt sich. Der herrschaftliche Mann schweigt. Als sie sich etwas gefangen hat und umdreht, sieht sie, wie er gerade die Kapuze von dem Kopf ihres toten Vaters zieht und einen kurzen triumphierenden Laut von sich gibt. Er hebt den Kopf des Leichnams an und zeigt ihn den drei Männern, die sie aus ihrem Kerker befreit haben. Das Gesicht ihres Vaters ist anders als das der Eindringlinge: Die Augen sind viel größer und runder, die Ohren, die Nase und der Mund kleiner, das Haar wuchs nur an vereinzelten Stellen und ist borstig. Einer der Männer versetzt ihrer Mutter einen Tritt, und sie rollt auf den Rücken. Ihr Gesicht weist ähnliche, wenn auch nicht so starke Unterschiede zu denen der Eindringlinge auf. Die Männer murmeln etwas, und sie hört Worte wie „Mutanten“ und „Chaos“, die ihr nichts sagen. Die Lippen des Anführers verziehen sich zu einem überheblichen Lächeln.

Dann wird er abgelenkt, als zwei weitere seiner Leute aus dem Nebenraum stürzen, die Gesichter kreidebleich. Wild brabbeln sie durcheinander, und erst ein kurzer Befehl des schwarz Gewandeten bringt sie dazu, einen deutlicheren Bericht abzugeben. Sie erzählen etwas von Menschenteilen, die sie gefunden hätten. Ihr Anführer nickt ernst und erklärt das Rätsel, wohin die von dem Henker Gerichteten verschwanden, für endgültig gelöst. Dann befiehlt er, dass die ehemalige Gefangene im Garten gesäubert werden solle.

Zwei Männer helfen ihr auf die Beine und bringen sie durch die hintere Tür ihres Elternhauses und die kurze Holztreppe hinunter in den umzäunten Garten. Widerstandslos lässt sie sich die zerlumpten Kleider abnehmen und mit in dem kalten Wasser des Brunnens getränkten Tüchern abreiben. Je länger sie sie waschen und je mehr Schmutz sie von ihr fortwischen, umso aufmerksamer gleiten ihre Blicke über ihren schlanken Körper. Nach anfänglichem Widerwillen gegen diese Arbeit macht sich erst Verblüffung, dann ein feistes Grinsen auf ihren Gesichtern breit. Ihr grobes Reiben auf ihrer Haut wird zunehmend sanfter, und ihre Hände gleiten immer wieder über ihre Brüste und andere Stellen ihres Körpers, die schon gesäubert sind. Schließlich, als sie ihre sorgfältige Arbeit beendet haben, halten sie ihr den vollen Eimer des Brunnens zum Trinken hin. In der sommerlichen Sonne reflektiert ihr Gesicht auf dem klaren Wasser, und zum ersten Mal sieht sie ihr Antlitz – es ist genauso wie das der Eindringlinge, mit den kleinen schmalen Augen, den Ohren, der Nase, dem Mund, so gänzlich anders als das ihrer Eltern. Erstaunt hebt sie den Kopf und blickt auf ihre Begleiter, dann betrachtet sie wieder ihr Spiegelbild. Schließlich bringen die Männer sie wieder in das Haus.

Im Inneren haben die anderen inzwischen die Leichname beseitigt, sich aber nicht die Mühe gemacht, auch das Blut und ihr Erbrochenes zu entfernen. Der Anführer sitzt selbstzufrieden an dem einzigen Tisch und streicht sich versonnen durch seinen Kinnbart. Als sie hineingeführt wird, hebt er den Kopf, und mit einem überraschten Gesichtsausdruck erkunden seine Augen eingehend ihren nackten, frierenden Körper. Sein prüfender Blick ist ihr unangenehm, und sie spürt Hitze in ihrem Gesicht aufwallen. Endlich wendet er sich ab, steht auf und holt aus dem zweiten Schrank im Raum ein Gewand ihrer Mutter, das er ihr zuwirft. Schnell kleidet sie sich an, um seinen und den gierigen Augen der anderen beiden Männer im Raum zu entgehen.

Verschwommen wie an einen Traum erinnert sie sich an die vergangenen zwei Tage, in denen sich ihr Leben vollständig geändert hat. Der schwarz Gekleidete hatten den übrigen Männern glänzende Metallstücke in die Hände gedrückt und sie entlassen, nachdem die Leichen ihrer Eltern auf dem Marktplatz des nächsten Ortes verbrannt worden waren. Sie hatte in dieser Zeit nie zu jemandem gesprochen aus Angst, dass sie offenbaren könnte, wer ihre Eltern waren, und sie ein ähnliches Schicksal erleiden könnte, noch hatte sie etwas zu Essen angerührt. Der Anführer der Mordbande schien sich damit zufrieden zu geben, dass sie eine Gefangene im Haus des abnormen Paares und darüber hinaus stumm sei. In angeblichem Großmut setzte er sie vor sich auf sein Reittier um sie mitzunehmen, als er die Ortschaft wieder verließ, nicht ohne dadurch hämisches Grinsen auf den Gesichtern seiner ehemaligen Gefolgsleute hervorzurufen. Wann immer ihr Retter es nicht bemerken konnte, warfen ihr die Männer und später auch andere, denen sie auf ihrem Ritt begegneten, gierige Blicke zu, pfiffen oder machten Gesten, die sie nicht verstand und nicht verstehen wollte. Und manchmal, wenn er sich unbeobachtet fühlte, starrte auch der Mann in Schwarz sie gedankenvoll an.

Am dritten Tag, noch am späten Nachmittag, machen sie auf einer kleinen Lichtung mit einem Tümpel halt. Ihr Retter hat unterwegs von einem jungen Mann ein Tier erworben, das er nun über einem kleinen Feuer brät. Sie verspürt großen Hunger, aber als er ihr ein Stück des toten Wilds anbietet, schüttelt sie stumm den Kopf. Er zuckt mit den Schultern und beißt herzhaft in das saftige Fleisch. Während er kaut erwähnt er, dass sie endlich etwas essen müsse, und wenn sie es heute Abend nicht täte, würde er sie am nächsten Morgen mit Gewalt füttern müssen. Nachdem er sich satt gegessen hat errichtet er ein Zelt. Es ist ihre erste Nacht außerhalb einer Ortschaft, und er hat sie bisher in keiner Weise behelligt. Zum ersten Mal sind sie allein, kein Mensch hält sich in der näheren Umgebung auf um sie zu sehen oder zu hören. Die Geräusche des Waldes sind beruhigend und unterstreichen ihre Einsamkeit.

Während er arbeitet, dreht er sich immer wieder zu ihr um, um sie für einige Atemzüge zu betrachten. Gedankenversunken befestigt er die Zeltleinen, als die Sonne untergeht. Schließlich hat er einen Entschluss gefasst und tritt selbstbewusst auf sie zu. Sie spürt an seinem Gang und bemerkt an der Gier in seinen Augen, die er nicht verschleiern kann, dass diesmal etwas anders ist als die beiden Tage zuvor. Er räuspert sich und fordert sie dann barsch auf, sich in das Zelt zu begeben, zu entkleiden und auf ihn zu warten. Doch sie bleibt still am Feuer sitzen. Plötzlich greift er sie am Arm und zerrt sie hoch, doch als er in ihre Augen schaut, entlässt er sie aus seinem harten Griff. Sie taumelt zurück. Er nickt, aber er gibt seinen Plan nicht auf. Mit geübten Handgriffen öffnet er die Schnallen seines Lederwams, dann zieht er sich sein weiches Hemd über den Kopf. Sein Körper ist kräftig und glänzt in dem Licht des Lagerfeuers. Nach einigen Augenblicken wendet er sich von ihr ab und geht auf den Tümpel zu. Er verspricht ihr, dass er sich noch waschen werde. Vorsichtig geht sie hinter ihm her.

Als er am Ufer in die Hocke geht, sieht sie die Muskeln auf seinem nackten Rücken spielen. Er spritzt sich Wasser über das Gesicht und auf die Brust, dann trinkt er in tiefen Zügen. Die Adern an seinem Hals treten deutlich hervor, als er schluckt, beschienen vom grünlichen Licht des einen gekrümmten Mondes, der sich nun am Himmel zeigt. Sie betrachtet versonnen seinen nackten Oberkörper, den Glanz, sie riecht seine Süße. Dann streckt sie die Hände aus und lässt sie über seinen Rücken gleiten. Sie fühlt, wie er sich kurz verspannt, aber alsbald genießt er ihre Zärtlichkeit. Ihr Mund öffnet sich leicht und küsst seinen Körper, sein Schulterblatt, seinen Nacken, dann seinen Hals. Sie hat Hunger. Ihre Fingernägel krallen sich unvermittelt in seine Arme, ihr Mund öffnet sich und schnappt zu, ihre vielen kleinen spitzen Zähne bohren sich in den Hals des Mannes. Er springt entsetzt auf und versucht sie abzuschütteln, doch sie schlingt ihre Beine um ihn und presst sich nur umso enger an ihn. Das Reittier wiehert angsterfüllt im Dunkeln und trampelt, doch es ist zu fest angebunden um zu helfen oder wegzulaufen. Sie beißt immer tiefer in seinen Hals, sein Blut füllt ihren Mund und spritzt auf den dunklen Waldboden. Er gibt es auf zu versuchen sie abzuschütteln und greift stattdessen in ihre langen Haare. Mit aller Kraft zieht er, und sie verspürt einen grässlichen Schmerz, doch ihr Kiefer kann sich nicht mehr von ihm lösen. Er versucht zu schreien, Hilfe herbeizurufen, doch in dem einsamen Wald hören ihn nur die Tiere der Nacht. Mit einer letzten Kraftanstrengung zerrt er ein weiteres Mal an ihr, und diesmal löst sich ihr Kopf, doch nicht ohne ein großes Stück seines Halses mit herauszureißen. Sie spuckt das Fleisch aus und beißt erneut zu. Diesmal ist er zu schwach, um noch weiteren Widerstand zu leisten. Der Mörder ihrer Eltern taumelt und stürzt. Sein Körper zuckt und windet sich noch eine Weile, während sie unerbittlich zubeißt, dann verlässt ein letztes Stöhnen seine Lippen, und er liegt still da. Sie wartet lange und wagt nicht, den Biss zu lockern, bis sie sich dem Tod des Mannes ganz sicher ist. Dann endlich löst sie sich von ihm und blickt auf seinen nackten Rücken, auf das Blut, das im Licht des Mondes unnatürlich glitzert. Sie hat sich für den Mord an ihren Eltern, die sie doch liebte trotz allem, was sie ihr antaten, gerächt. Und sie kann endlich wieder etwas essen. Diesmal ist ihr Mahl nicht kalt, sondern warm.


Der Autor
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Die Jury
"Die ungewöhnlichste Geschichte im Rennen! Der Autor überzeugt durch Sprache und Stil, sowie einen Plot, der anfänglich alles andere als 'normal' ist. Leider wirkt der 'Retter' sehr farblos, wie überhaupt die ganzen Ereignisse nach der Befreiung. Hier lässt die Geschichte leider deutlich nach, jedoch ist der Schluss mit der vollendeten Rache - wenn auch sehr überraschend und kurzfristig eingefädelt - glaubwürdig und gut erzählt."
"Überraschende Wendung, guter Stil, aber ein wenig platt in der restlichen Zeichnung der Charaktere."

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