Sie ist abnorm. Das
ist der Grund, warum sie in der Dunkelheit hausen muss. Sie ist
befleckt. Ihre Welt besteht aus fünf mal zehn Schritten,
die sie Tag um Tag, Jahr um Jahr geht. Früher waren es mehr
Schritte, als sie noch kleiner war, doch sie kann nicht mehr als
bis zehn zählen, nie hat sie es gelernt. Früher –
sie erinnert sich an eine Zeit, an Sonnenlicht in dem von hohen
Zäunen beschützten Garten des Hauses, in dessen Keller
sie nun versteckt leben muss. Sie erinnert sich an ihre Eltern,
an liebevolle Stunden, an Ballspiele und einfache Freuden, so
unendlich lange her. Es war eine Zeit, bevor ihr Makel sichtbar
wurde, bevor ihre Eltern beschlossen, sie zu ihrem eigenen Schutz
zu verstecken, damit niemand sie sehen und wegen ihrer Abnormität
Schlimmes antun würde. Sie tastet über ihr Gesicht,
ihre zu großen Ohren, ihre kleinen Augen. Ihre Finger streichen
über ihre Zähne, scharf und klein. Sie ist anders geraten
als ihre Eltern und hat daher ihr Entsetzen hervorgerufen.
Wie so oft geht sie in ihrem Kerker auf und ab, misst mit ihren
Beinen die Strecke von einer Mauer zur anderen und wieder zurück.
Nachts verraten der leise Widerhall und ihr Atem, wann sie stoppen
muss, um sich nicht den Kopf zu stoßen. Am Tag offenbart
ihr ein dünner Lichtstrahl ihre Umgebung: der Raum aus
Holzbalken und fest gestampftem Lehm, in dessen Ecke ein mit
Stroh gefüllter Sack und eine Decke aus Schaffell ihre
Lagerstätte bilden, die hölzerne steile Treppe, an
deren Fuß sich ihr Abort in Form eines einfachen Eimers
sowie eine Schale mit Wasser zum Trinken und Waschen befinden,
am oberen Ende eine schwere Holztür, die zu den Räumen
ihrer Eltern führt.
Ihre Eltern. Ihr Vater ist ein gerechter Mann. Er war es, der
beschlossen hatte, sie einzusperren. Er muss gerecht sein, denn
Gerechtigkeit zu üben ist der Beruf ihres Vaters. Es gibt
Tage, an denen er gerufen wird und das Haus verlässt, in
seiner Hand eine nahezu mannshohe, schwere zweischneidige Axt,
über seinem Kopf eine lederne Kapuze mit lediglich zwei
Schlitzen für die Augen. Als sie noch klein gewesen war
und das Tageslicht sehen durfte, hatte ihre Mutter ihr erzählt,
dass seine Kleidung und die Axt den anderen Bewohnern in der
Umgebung Angst einflößen und sie daher weit ab von
allen anderen Menschen lebten.
Ihre Mutter. Sie hat ein gutes Herz. Sie war es, die ihren
Vater dazu überredet hatte, sie nicht zu töten, sondern
zu verstecken. Wenn ihr Vater Gerechtigkeit üben muss,
ist er manchmal für viele Stunden oder Tage fort. Ihre
Mutter singt dann manchmal mit ihrer sanften Stimme für
sie vor der schweren Tür, und sie lauscht dann mit Tränen
in den Augen unten auf dem kahlen Boden des Kellers sitzend.
Ihr Vater hatte seiner Frau einst verboten mit ihr zu sprechen,
also singt sie, wenn er fort ist. Das ist nicht verboten.
Sie stellt sich auf ihren Strohsack, sodass ihr Kopf beinahe
die niedrige Holzdecke berührt, und blickt durch ein kleines
Loch nach draußen. Sie selbst hat es in langer und mühseliger
Arbeit durch den harten Lehm und das Flechtwerk gegraben, um
wieder das Licht sehen zu können. Sie blickt auf volles,
grünes Gras, durch das sie, wenn es sich leicht im Wind
bewegt, einen Teil des Brunnens und des hinteren Zauns des Gartens
erspähen kann. Der Garten, in dem sie die schönsten
Stunden ihrer ersten Sommertage verbringen durfte, schon damals
abgeschirmt von Außen. Es waren solche Sommertage wie
heute.
Die Stimmen ihrer Eltern, die leise durch die Tür am oberen
Ende der Treppe dringen, erwecken sie aus ihrer Gedankenversunkenheit.
Rasch stopft sie einen Brocken mit ihrem Speichel angefeuchteten
Lehms vor das Loch und springt von dem Sack. Sie will nicht,
dass ihr Vater es entdeckt, wenn er ihr Essen brächte.
Sie hat Hunger und hofft, dass er ihr etwas Warmes mitbringen
wird. Meistens ist ihre Speise kalt und klebrig. Doch die Tür
öffnet sich nicht, und sie weiß auch, dass es nicht
die richtige Zeit ist, da er immer nur nachts zu ihr kommt.
Vereinzelte Gesprächsfetzen verraten ihr, dass ihr Vater
seine Arbeit tun müsse. Sie lauscht seinen schweren Schritte
über ihr, hört das Knarzen, wie sich ein großer
Schrank öffnet, ein dumpfer Ton erklingt, als er seine
große Axt mit dem Kopf voran auf den Boden stellt. Vielleicht
wird er nur wenige Stunden fort sein, vielleicht ein paar Tage,
je nachdem wie weit er diesmal bis zu seiner Arbeit gehen muss.
Als er das Haus verlassen hat, hört sie wie ihre Mutter
den Stuhl vor die Tür zu ihrem Gefängnis schiebt und
zu singen beginnt. Sie verlässt nie das Haus, ist wie ihre
Tochter eine Gefangene, auf die oberen beiden Räume und
den Garten beschränkt. Auf dem Boden sitzend, die Arme
um die Knie geschlungen und leise weinend schläft sie bei
den sanften Tönen der Mutter ein.
Sie erwacht, als ihr Vater zurück kommt. Es ist anders
als sonst, das spürt sie sofort. Er brummt ärgerlich,
und ihre Mutter flüstert mit besorgter und ängstlicher
Stimme. Vielleicht ist etwas verkehrt gelaufen, vielleicht bei
der Arbeit. Sie hört, wie ihr Vater etwas über den
Boden schleift, in den anderen oberen Raum hinein geht, gefolgt
von seiner Frau, die unablässig auf ihn einredet. Sie versucht
leise zu sein, sodass ihre Tochter nicht verstehen kann was
sie sprechen, aber ihre Gefühle kann sie nicht verbergen.
Die Tür zu dem zweiten Raum schließt sich und schneidet
die Stimmen bis auf ein entferntes Gemurmel ab.
Sie kauert auf dem Boden und wartet. Ihr Magen beginnt zu knurren.
Einmal, als sie mehrere Tage nichts zu Essen bekommen hatte,
hatte sie Lehm mit Wasser gemischt und den Brei geschluckt.
Das war ihr nicht bekommen, und sie tat es nie wieder. Ein anderes
Mal hatte sie sich an einem dicken Käfer versucht, der
über ihre bloßen Füße gelaufen war, doch
als sein Panzer zwischen ihren Zähnen knackend aufgebrochen
war, hatte sich ein abscheulicher Geschmack in ihrem Mund verbreitet,
und sie hatte die Überreste auf den Boden gespuckt. Ihr
bleibt also nur zu warten. Schließlich steht sie auf und
entfernt den Brocken vor dem kleinen Loch, doch draußen
ist es dunkel. Ein sanfter Hauch warmer Luft streicht über
ihre Wange. Für eine Weile verharrt sie und genießt
die sommerliche Abendluft.
Dann nähern sich die Schritte ihres Vaters der Kellertür,
und hastig verstopft sie das Loch. Ein schwerer Riegel wird
entfernt, dann erfüllt blendendes Licht ihren Kerker. In
der linken Hand eine Laterne und einen Napf, über dem Handgelenk
der Henkel eines Eimers, in der rechten die große Axt,
klettert ihr Vater vorsichtig die Treppenstufen hinab. Sie weiß,
was sie zu tun hat, um nicht grob von dem Axtkopf gestoßen
zu werden, und kauert sich mit dem Gesicht zur Wand in die hinterste
Ecke des Kellers. Sie hört, wie ihr Vater den Fuß
der Treppe erreicht, den Napf abstellt und aus dem Eimer Wasser
in ihre Schale flößt. Dann richtet er sich wieder
auf und steht still. Sie spürt seinen Blick auf sich ruhen.
Einen kurzen Moment stellt sie sich vor, er würde ein paar
schnelle Schritte auf sie zu machen, mit seinen kräftigen
Armen mühelos die schwere Axt heben und auf sie niedersausen
lassen. Ihr Nacken würde nur einen geringen Widerstand
leisten, ihr Kopf von ihren Schultern und auf den Boden rollen.
Instinktiv ist sie sich sicher, dass ihr Vater dazu fähig
ist. Doch sie spürt auch, dass er diese Tat nie ausführen
würde. Er könnte sich über das Flehen seiner
Frau hinwegsetzen, doch die elterliche Liebe zu seiner einzigen
Tochter verbietet diesen Mord. Er wird ein paar Augenblicke
besorgt, ärgerlich, enttäuscht und traurig auf sein
eigenes Fleisch und Blut blicken und sich dann zum Gehen wenden.
Und so wie so unzählige Male zuvor auch geschieht es. Sie
atmet auf.
Als das Poltern des Riegels, der sich wieder vor die Kellertür
senkt, verhallt ist, wagt sie sich umzudrehen und in der Dunkelheit
tastend auf den Napf zuzukriechen. Erst nimmt sie einen Schluck
Wasser, dann verschlingt sie gierig ihr Essen. Wieder ist es
kalt, doch ihr Hunger ist so groß, dass sie es dennoch
genießt. Als sie ihr Mahl beendet hat und die letzten
Reste von ihren Fingern leckt, macht sich ein wohliges Gefühl
in ihrem Magen breit, und zufrieden legt sie sich auf ihr Bett,
um alsbald friedlich einzuschlafen.
Erneut wird sie geweckt. In der Nacht hat sie in ihrer Eile
den Lehm nur unzureichend über das Loch gestopft, und ein
feiner Lichtstrahl verrät ihr, dass es früher Morgen
sein muss. Das Geräusch, das sie aus dem Schlaf gerissen
hat und so ungewöhnlich ist, erklingt wieder: Ein festes
Klopfen an der Außentür des Hauses. Sie hört,
wie ihre Eltern hastig und verstohlen miteinander flüstern.
Eine fremde Stimme ruft etwas. Die Schritte ihres Vaters durchmessen
den oberen Raum, und seine Stimme erklingt so laut, dass sie
die Worte hören kann: Wer es wage, in das Haus eines Henkers
eindringen zu wollen und dadurch den Fluch seines Handwerks
auf sich zu laden. Doch der Fremde vor der Tür scheint
keineswegs von dieser Rede beeindruckt zu sein. In herrischem
Ton fordert er Einlass. Andere Stimmen ertönen, der Fremde
ist nicht allein gekommen. Sie ist verängstigt und neugierig
zugleich. Noch nie zuvor ist jemand gekommen, um ihre Eltern
aufzusuchen. Doch dies ist kein freundlicher Besuch. Der Schrank
über ihr öffnet sich, und sie weiß, dass ihr
Vater die Axt zur Hand nimmt.
Von Draußen erklingt ein bellender Befehl, dann kracht
es laut an der Tür. Ihre Mutter schreit, ihr Vater ruft
zornig. Ein Splittern ertönt, dann ein Knall, als die Holztür
bricht. Stimmen, erstaunte Rufe, dann Schreie, dumpfe Schläge
und plötzlich Wehklagen. Etwas fällt wie ein schwerer
Sack zu Boden, dann noch etwas. Ihr Vater brüllt, seine
Wut und seine Kraft müssen gewaltig sein. Vor ihrem inneren
Auge wird sie Zeuge, wie er die Axt schwingt und die Fremden
zerstückelt. Doch es müssen viele sein, viele Fußpaare
trampeln über ihr, Schläge von Metall auf Metall ertönen,
dann ein Triumphgeheul aus vielen Kehlen, und etwas Schweres
fällt. Nun wird auch wieder das Schreien ihrer Mutter,
das das gesamte Getöse über angehalten und über
diesem erklungen ist, besser hörbar. Doch es soll nicht
mehr lange währen, ein paar hastige Schritte, dann wird
aus dem Schrei ein Gurgeln und dem Gurgeln folgt Stille.
Schließlich wird das Schweigen von einigen klaren Befehlen
durchbrochen: Das Haus solle durchsucht werden, der zweite Raum
und der Keller. Ängstlich drückt sie sich wieder in
die Ecke, in die sie sich nur wenige Stunden zuvor verkrochen
hatte, als ihr Vater ihr Essen bringen gekommen war. Sie tastet
über die Lumpen, die ihren Körper bedecken, doch sie
weiß, dass sie keine Waffe besitzt, und selbst wenn, dass
sie mit dieser nicht umgehen könnte. Der Riegel vor der
Kellertür wird hastig zurückgeschoben und die Tür
brutal aufgestoßen. Das Licht des frühen Morgens
durchflutet ihren Kerker, zum ersten Mal seitdem sie eingeschlossen
worden war. Es brennt in ihren Augen, auch wenn sie Licht nicht
gänzlich ungewohnt ist. Vorsichtige Schritte erklingen
von der Treppe, und sie wendet sich mit dem Gesicht zur Wand,
um ihren Mördern nicht ins Antlitz sehen zu müssen.
Eine barsche Stimme, die eine tiefe Nervosität kaum zu
überspielen vermag, fordert sie auf, sich umzudrehen. Als
sie sich zitternd weiter in die Ecke verkriecht, spürt
sie eine kalte Spitze in ihrem Rücken ihre Kleidung durchdringen
und einen leichten, auffordernden Stich. Mit dem Gefühl,
dass dies ihr letzter Augenblick sei, dreht sie sich langsam
um.
Drei Männer stehen dort, mit fremdartigen Gesichtern,
glitzernde Metallwaffen in ihren Händen. Ihre vor Anspannung
verzerrten Minen lichten sich merklich, als sie sich ihnen zuwendet.
Einer von ihnen ruft nach oben, dass sie eine Gefangene gefunden
hätten, ein zweiter packt sie schnell, aber nicht unsanft,
unter dem Arm und hebt sie mühelos vom Boden auf. Dann,
nach einem letzten prüfenden Blick auf ihre Zelle, gehen
sie langsam mit ihr die Treppen hinauf.
Sie ist wieder in dem oberen Bereich des Hauses, nach so langer
Zeit. Sie hatte sich so oft nach diesem Moment gesehnt, und
nun ist ihr jegliche Freude gestohlen worden. Blut besudelt
die Wände und die wenigen Einrichtungsstücke, der
Geruch hängt schwer in der Luft. Ihre Eltern liegen von
großen Lachen umgeben auf dem Boden, zusammen mit zwei
weiteren Leibern der Fremden, die eingedrungen sind. Ein dritter
krümmt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht, seine linke
Hand auf den Stumpf seines rechten Arms gedrückt, den ihm
die Axt ihres Vaters abgetrennt hat. Blut dringt ihm zwischen
den Fingern hervor und tropft auf den Boden, während ein
weiterer Mann vor ihm kniet und mit geübter Hand Stofffetzen
von einem Tuch abreißt. Einer der Leichen fehlt ein Kopf,
die andere ist nahezu in der Körpermitte durchtrennt worden,
Innereien sind auf dem Boden verteilt. Ihren Vater, das Gesicht
wie wenn er zur Arbeit gehen würde hinter einer Kapuze
verborgen, haben sie mit unzähligen Hieben niedergestreckt,
ihrer Mutter die Kehle aufgeschnitten. Inmitten des Schlachtfeldes
steht stolz aufgerichtet, eine längliche, schlanke, besudelte
Waffe in der Rechten, ein Mann in schwarzer Kleidung mit silbern
glänzenden Schnallen und mit einem breitkrempigen Hut auf
dem schwarzhaarigen Kopf. Doch nicht seine feine Kleidung ist
es, die ihn als Anführer der einfach wirkenden Eindringlinge
kenntlich machten, sondern seine lodernden Augen, die er nun
auf sie richtet.
Plötzlich schlagen die Ereignisse, das Blut, das Licht,
das Grauen in dem Zimmer mit aller Macht über sie herein.
Haltlos sinkt sie zu Boden und übergibt sich. Der herrschaftliche
Mann schweigt. Als sie sich etwas gefangen hat und umdreht,
sieht sie, wie er gerade die Kapuze von dem Kopf ihres toten
Vaters zieht und einen kurzen triumphierenden Laut von sich
gibt. Er hebt den Kopf des Leichnams an und zeigt ihn den drei
Männern, die sie aus ihrem Kerker befreit haben. Das Gesicht
ihres Vaters ist anders als das der Eindringlinge: Die Augen
sind viel größer und runder, die Ohren, die Nase
und der Mund kleiner, das Haar wuchs nur an vereinzelten Stellen
und ist borstig. Einer der Männer versetzt ihrer Mutter
einen Tritt, und sie rollt auf den Rücken. Ihr Gesicht
weist ähnliche, wenn auch nicht so starke Unterschiede
zu denen der Eindringlinge auf. Die Männer murmeln etwas,
und sie hört Worte wie „Mutanten“ und „Chaos“,
die ihr nichts sagen. Die Lippen des Anführers verziehen
sich zu einem überheblichen Lächeln.
Dann wird er abgelenkt, als zwei weitere seiner Leute aus dem
Nebenraum stürzen, die Gesichter kreidebleich. Wild brabbeln
sie durcheinander, und erst ein kurzer Befehl des schwarz Gewandeten
bringt sie dazu, einen deutlicheren Bericht abzugeben. Sie erzählen
etwas von Menschenteilen, die sie gefunden hätten. Ihr
Anführer nickt ernst und erklärt das Rätsel,
wohin die von dem Henker Gerichteten verschwanden, für
endgültig gelöst. Dann befiehlt er, dass die ehemalige
Gefangene im Garten gesäubert werden solle.
Zwei Männer helfen ihr auf die Beine und bringen sie durch
die hintere Tür ihres Elternhauses und die kurze Holztreppe
hinunter in den umzäunten Garten. Widerstandslos lässt
sie sich die zerlumpten Kleider abnehmen und mit in dem kalten
Wasser des Brunnens getränkten Tüchern abreiben. Je
länger sie sie waschen und je mehr Schmutz sie von ihr
fortwischen, umso aufmerksamer gleiten ihre Blicke über
ihren schlanken Körper. Nach anfänglichem Widerwillen
gegen diese Arbeit macht sich erst Verblüffung, dann ein
feistes Grinsen auf ihren Gesichtern breit. Ihr grobes Reiben
auf ihrer Haut wird zunehmend sanfter, und ihre Hände gleiten
immer wieder über ihre Brüste und andere Stellen ihres
Körpers, die schon gesäubert sind. Schließlich,
als sie ihre sorgfältige Arbeit beendet haben, halten sie
ihr den vollen Eimer des Brunnens zum Trinken hin. In der sommerlichen
Sonne reflektiert ihr Gesicht auf dem klaren Wasser, und zum
ersten Mal sieht sie ihr Antlitz – es ist genauso wie
das der Eindringlinge, mit den kleinen schmalen Augen, den Ohren,
der Nase, dem Mund, so gänzlich anders als das ihrer Eltern.
Erstaunt hebt sie den Kopf und blickt auf ihre Begleiter, dann
betrachtet sie wieder ihr Spiegelbild. Schließlich bringen
die Männer sie wieder in das Haus.
Im Inneren haben die anderen inzwischen die Leichname beseitigt,
sich aber nicht die Mühe gemacht, auch das Blut und ihr
Erbrochenes zu entfernen. Der Anführer sitzt selbstzufrieden
an dem einzigen Tisch und streicht sich versonnen durch seinen
Kinnbart. Als sie hineingeführt wird, hebt er den Kopf,
und mit einem überraschten Gesichtsausdruck erkunden seine
Augen eingehend ihren nackten, frierenden Körper. Sein
prüfender Blick ist ihr unangenehm, und sie spürt
Hitze in ihrem Gesicht aufwallen. Endlich wendet er sich ab,
steht auf und holt aus dem zweiten Schrank im Raum ein Gewand
ihrer Mutter, das er ihr zuwirft. Schnell kleidet sie sich an,
um seinen und den gierigen Augen der anderen beiden Männer
im Raum zu entgehen.
Verschwommen wie an einen Traum erinnert sie sich an die vergangenen
zwei Tage, in denen sich ihr Leben vollständig geändert
hat. Der schwarz Gekleidete hatten den übrigen Männern
glänzende Metallstücke in die Hände gedrückt
und sie entlassen, nachdem die Leichen ihrer Eltern auf dem
Marktplatz des nächsten Ortes verbrannt worden waren. Sie
hatte in dieser Zeit nie zu jemandem gesprochen aus Angst, dass
sie offenbaren könnte, wer ihre Eltern waren, und sie ein
ähnliches Schicksal erleiden könnte, noch hatte sie
etwas zu Essen angerührt. Der Anführer der Mordbande
schien sich damit zufrieden zu geben, dass sie eine Gefangene
im Haus des abnormen Paares und darüber hinaus stumm sei.
In angeblichem Großmut setzte er sie vor sich auf sein
Reittier um sie mitzunehmen, als er die Ortschaft wieder verließ,
nicht ohne dadurch hämisches Grinsen auf den Gesichtern
seiner ehemaligen Gefolgsleute hervorzurufen. Wann immer ihr
Retter es nicht bemerken konnte, warfen ihr die Männer
und später auch andere, denen sie auf ihrem Ritt begegneten,
gierige Blicke zu, pfiffen oder machten Gesten, die sie nicht
verstand und nicht verstehen wollte. Und manchmal, wenn er sich
unbeobachtet fühlte, starrte auch der Mann in Schwarz sie
gedankenvoll an.
Am dritten Tag, noch am späten Nachmittag, machen sie
auf einer kleinen Lichtung mit einem Tümpel halt. Ihr Retter
hat unterwegs von einem jungen Mann ein Tier erworben, das er
nun über einem kleinen Feuer brät. Sie verspürt
großen Hunger, aber als er ihr ein Stück des toten
Wilds anbietet, schüttelt sie stumm den Kopf. Er zuckt
mit den Schultern und beißt herzhaft in das saftige Fleisch.
Während er kaut erwähnt er, dass sie endlich etwas
essen müsse, und wenn sie es heute Abend nicht täte,
würde er sie am nächsten Morgen mit Gewalt füttern
müssen. Nachdem er sich satt gegessen hat errichtet er
ein Zelt. Es ist ihre erste Nacht außerhalb einer Ortschaft,
und er hat sie bisher in keiner Weise behelligt. Zum ersten
Mal sind sie allein, kein Mensch hält sich in der näheren
Umgebung auf um sie zu sehen oder zu hören. Die Geräusche
des Waldes sind beruhigend und unterstreichen ihre Einsamkeit.
Während er arbeitet, dreht er sich immer wieder zu ihr
um, um sie für einige Atemzüge zu betrachten. Gedankenversunken
befestigt er die Zeltleinen, als die Sonne untergeht. Schließlich
hat er einen Entschluss gefasst und tritt selbstbewusst auf
sie zu. Sie spürt an seinem Gang und bemerkt an der Gier
in seinen Augen, die er nicht verschleiern kann, dass diesmal
etwas anders ist als die beiden Tage zuvor. Er räuspert
sich und fordert sie dann barsch auf, sich in das Zelt zu begeben,
zu entkleiden und auf ihn zu warten. Doch sie bleibt still am
Feuer sitzen. Plötzlich greift er sie am Arm und zerrt
sie hoch, doch als er in ihre Augen schaut, entlässt er
sie aus seinem harten Griff. Sie taumelt zurück. Er nickt,
aber er gibt seinen Plan nicht auf. Mit geübten Handgriffen
öffnet er die Schnallen seines Lederwams, dann zieht er
sich sein weiches Hemd über den Kopf. Sein Körper
ist kräftig und glänzt in dem Licht des Lagerfeuers.
Nach einigen Augenblicken wendet er sich von ihr ab und geht
auf den Tümpel zu. Er verspricht ihr, dass er sich noch
waschen werde. Vorsichtig geht sie hinter ihm her.
Als er am Ufer in die Hocke geht, sieht sie die Muskeln auf
seinem nackten Rücken spielen. Er spritzt sich Wasser über
das Gesicht und auf die Brust, dann trinkt er in tiefen Zügen.
Die Adern an seinem Hals treten deutlich hervor, als er schluckt,
beschienen vom grünlichen Licht des einen gekrümmten
Mondes, der sich nun am Himmel zeigt. Sie betrachtet versonnen
seinen nackten Oberkörper, den Glanz, sie riecht seine
Süße. Dann streckt sie die Hände aus und lässt
sie über seinen Rücken gleiten. Sie fühlt, wie
er sich kurz verspannt, aber alsbald genießt er ihre Zärtlichkeit.
Ihr Mund öffnet sich leicht und küsst seinen Körper,
sein Schulterblatt, seinen Nacken, dann seinen Hals. Sie hat
Hunger. Ihre Fingernägel krallen sich unvermittelt in seine
Arme, ihr Mund öffnet sich und schnappt zu, ihre vielen
kleinen spitzen Zähne bohren sich in den Hals des Mannes.
Er springt entsetzt auf und versucht sie abzuschütteln,
doch sie schlingt ihre Beine um ihn und presst sich nur umso
enger an ihn. Das Reittier wiehert angsterfüllt im Dunkeln
und trampelt, doch es ist zu fest angebunden um zu helfen oder
wegzulaufen. Sie beißt immer tiefer in seinen Hals, sein
Blut füllt ihren Mund und spritzt auf den dunklen Waldboden.
Er gibt es auf zu versuchen sie abzuschütteln und greift
stattdessen in ihre langen Haare. Mit aller Kraft zieht er,
und sie verspürt einen grässlichen Schmerz, doch ihr
Kiefer kann sich nicht mehr von ihm lösen. Er versucht
zu schreien, Hilfe herbeizurufen, doch in dem einsamen Wald
hören ihn nur die Tiere der Nacht. Mit einer letzten Kraftanstrengung
zerrt er ein weiteres Mal an ihr, und diesmal löst sich
ihr Kopf, doch nicht ohne ein großes Stück seines
Halses mit herauszureißen. Sie spuckt das Fleisch aus
und beißt erneut zu. Diesmal ist er zu schwach, um noch
weiteren Widerstand zu leisten. Der Mörder ihrer Eltern
taumelt und stürzt. Sein Körper zuckt und windet sich
noch eine Weile, während sie unerbittlich zubeißt,
dann verlässt ein letztes Stöhnen seine Lippen, und
er liegt still da. Sie wartet lange und wagt nicht, den Biss
zu lockern, bis sie sich dem Tod des Mannes ganz sicher ist.
Dann endlich löst sie sich von ihm und blickt auf seinen
nackten Rücken, auf das Blut, das im Licht des Mondes unnatürlich
glitzert. Sie hat sich für den Mord an ihren Eltern, die
sie doch liebte trotz allem, was sie ihr antaten, gerächt.
Und sie kann endlich wieder etwas essen. Diesmal ist ihr Mahl
nicht kalt, sondern warm.
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