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VOLKER WÖLL - "SEUCHE"

Das kleine Mädchen schaute ihn aus großen runden Augen an. In diesen Augen lag keine Hoffnung mehr, nur Schmerz, Kummer und Verzweiflung. So jung sie war hatte sie schon keine Tränen mehr um ihr Schicksal und das ihrer ganzen Familie zu beweinen. Hastig wand er den Blick ab. Unbewusst griff er nach dem Schutzamulett um seinen Hals, als er weiter durch das Seuchenhaus Albisheims schritt.
„Shallaya, steh uns bei.“ murmelte der Medikus.
Die Luft in dem langen ehemaligen Lagerhaus roch nach Tod, Urin und Fäulnis. Fasst einhundert Infizierte drängten sich auf engstem Raum, es gab längst keine Betten mehr für alle und die meisten von ihnen würden bald sterben, elendig zugrunde gehen, wie die Eltern des kranken Mädchens. Von den über dreihundert Erkrankten hatte weniger als ein dutzend die Krankheit überstanden zweihundertundelf waren gestorben, bis jetzt.
Billroth erreichte das Ende des Ganges. Er öffnete die schwere Holztür mit dem Schlüssel, den er am Gürtel trug und eilte nach draußen. Etwas zu hektisch, wie er fand. Er schämte sich dafür, dass er sich vor seinen Patienten ekelte, nein fürchtete. All ihre Hoffnungen, soweit sie noch welche hatten ruhte auf ihm: Magistrat Magnus Billroth, Medikus und Wunderkind, Leibarzt des Kurfürsten.
„Magistrat!“ einer der Wachsoldaten die er um das Gebäude platziert hatte und die auf seine Anweisung hin mit Armbrüsten ausgerüstet worden waren kam auf ihn zu. Das Gesicht des Mannes spiegelte Angst und Unsicherheit wieder. Magnus Billroth atmete einmal tief durch, bevor er sich dem Soldaten zu wand. Er wusste was der Mann wollte.
„Die…die…Kranken werden langsam unruhig. Besonders die Jungen, die, die sich noch nicht so krank fühlen. Sie haben heute Nacht an der Tür gerüttelt. Sie wollen raus.“ Der Mann machte eine Pause, fast als habe er Angst weiter zu sprechen. Er fürchtete die Antwort auf seine Frage ebenso wie Billroth sie fürchtete. „Was sollen wir machen, wenn sie die Tür aufbrechen?“
„Schiessen,“ antwortete Billroth ohne zu zögern, aber sein Mund war trocken und seine Stimme brach. Er musste schlucken bevor er weiter sprach. „ Es ist wichtig, die ansteckenden Dämpfe nicht aus der Baracke heraus zu lassen. Die Kranken würden die Seuche in die Stadt tragen.“
Das glaubte er zumindest. Das war die Lehrmeinung bei der jungen Generation aufstrebender Mediziner zu der auch der 32 Jahre alte Billroth gehörte. Trotzdem gab es immer neue Fälle der Krankheit. Also hatte er nach weiteren Quellen der Ansteckung gesucht und sie in den Brunnen der Unterstadt entdeckt. Er hatte im Namen des Magistrates eine Sperre über die Brunnen verhängt, aber damit nur ein Übel gegen ein anderes eingetauscht. Der Sommer war so heiß wie seid Jahren nicht mehr und die Öde war bis Marienburg ausgedörrt und zersprungen wie altes Gebäck. Die Einwohner Albisheims leideten Durst und das schwächte die Ärmsten und Schwächsten noch mehr, bahnte den Weg für die Krankheit die schon in ihnen zu stecken schien.
So kam er nicht weiter also hatte er beschlossen einen anderen Weg zu gehen. Er würde das Geld des Magistrates dafür einsetzen der Ursache der rätselhaften Seuche auf den Grund zu gehen.

Magnus Billroths Haus lag in der Oberstadt Albisheims. Er war einer der wohlhabendsten Einwohner der kleinen Stadt am Rande der Ödnis, welche die unabhängige Stadt Marienbad umgab. Der Kurfürst von Nordland hatte ihn reich dafür belohnt das er das Leben seiner Frau vor dem Sumpffieber gerettet hatte. Dieser spektakuläre Erfolg hatte ihm außerdem den Ruf eingebracht einer der besten Medikusse der Alten Welt zu sein. Er hatte gesiegt, wo alle Heilzauber versagt hatten. Deshalb hatte man sich keine großen Sorgen gemacht, als ausgerechnet seine Heimat aus dem Nichts von einer bis dato unbekannten Krankheit heimgesucht wurde: Der junge Billroth würde das schon richten.
Aber diese Krankheit hatte etwas Seltsames: Keinen Wabenextrakt, kein Brotschimmelsud, kein Aderlass und keine Rosenkur wirkte. Einzig strenge Isolierung schien die Ausbreitung der Krankheit zu verlangsamen. Deshalb hatte er nach dem Ursprung der Krankheit geforscht und er glaubte ihn gefunden zu haben.
In seinem Arbeitszimmer wartete bereits ein Mann auf ihn. Der Besucher war nicht groß, eher stämmig zu nennen, seine Kleidung war grob und funktional: schwere Stiefel, derbe schwarze Hosen und ein einfaches Leinenhemd über dem er eine schwarze Krötenhaut trug. Das nietenbesetzte Leder war im Gegensatz zu seinem Besitzer sorgfältig gepflegt. Der Mann hatte das brutale Gesicht eines Schlägers, er war unrasiert und ein paar seiner Zähne fehlten. Sein Haar war kurz geschnitten und wirkte unter dem ausgeblichenen braunen Filzhut fettig. Er war vielleicht zehn Jahre älter als Billroth, aber der Medikus wusste, dass Thomas Scheuermann trotz seines Äußeren als einer der Besten Monsterjäger im Reich galt.
Als er eintrat stand der ältere Mann auf. Magnus reichte ihm die Hand und hatte dabei das Gefühl von seinem Gegenüber genau gemustert zu werden. Unter den dichten Augenbrauen Scheuermanns lagen klare und intelligente Augen.
„Sie ham ein Problem in ihrer Stadt Magistrat?“ kam der Monsterjäger gleich zur Sache.
Billroth ging um seinen Schreibtisch und griff nach einer Karaffe mit lustrianischem Brandwein. Anstatt auf die Frage des anderen zu antworten hob er die Flasche:
„Möchten sie auch einen?“
Scheuermann schenkte ihm ein zahnlückiges Grinsen. „Gern doch.“
Der Medikus füllte zwei Gläser, reichte eines davon seinem Gast und setzte sich in seinen ledergepolsterten Arbeitssessel. Nachdem er einen Schluck des starken Alkohols genommen hatte und ihn die Flüssigkeit angenehm von innen wärmte fragte er:
„Was wissen sie über Seuchen Herr Scheuermann?“
Der Andere schien kurz zu überlegen, dann sagte er:
„Nicht viel, aber ich hab gehört sie wären ein echter Fachmann auf diesem Gebiet, Doktor Magnus Billroth. Ein Anwärter auf einen Lehrstuhl in Marienbug oder sogar Nuln.“
Einen Moment war Billroth überrascht. „Sie scheinen sehr gut informiert zu sein, Herr Scheuermann.“
Scheuermann zuckte nur mit den Schultern: „Sieht aus wie ´n Wilder, riecht wie ´n Wilder, kann aber lesen. Was ist es nun also, wobei ich ihnen helfen soll? ´ne Seuche kann ich nicht für sie zur Strecke bringen.“
„Vielleicht doch.“ Billroth griff nach einer zusammengerollten Karte und breitete sie auf seinem Schreibtisch aus. „Dies ist eine Karte Albisheims und der Umgebung. Wie sie sehen können liegt unter der Stadt ein ausgeprägtes Labyrinth alter Gänge und Schächte.“
„Schmuggler Verstecke,“ stimmte Scheuermann zu, „ich habe so was schon oft gesehen, vor allem in der Nähe großer Städte.“
Billroth nickte heftig. „Ganz genau. Nur hier verläuft auch noch ein unterirdischer Fluss, sehen sie?“ er fuhr mit seinem Zeigefinger eine Kontur auf der groben Karte nach, „Und über diesem Fluss liegen die meisten Brunnen der Unterstadt.“
Der Monsterjäger fuhr sich mit der linken Hand über sein stoppeliges Kinn. Verstehend nickte er: „Sie glauben jemand hätte ihre Brunnen vergiftet.“
„Jemand oder etwas. Das sollen sie herausfinden.“
„Das ist nicht so leicht. Wissen sie, normalerweise weiß ich, was mich erwartet. Ich kann mich vorbereiten. Aber hier könnt alles auf mich lauern, oder nichts.“ Letzteres betonte er besonders. Normalerweise war es üblich Monsterjäger nach Erfolg zu bezahlen.
„Herr Scheuermann ich werde sie auf jeden Fall bezahlen“, beruhigte ihn Billroth „das eineinhalbfache Honorar einer einfachen Goblinjagd, sollten wir nichts für sie finden, ansonsten den üblichen Tarif, plus eventuelle Boni.“
„Das klingt nicht übel.“
„Wenn das also geklärt ist.“ Billroth war aufgestanden um sein Glas neu zu füllen. „Wann können wir aufbrechen?“
Scheuermann lies sein Glas sinken, aus dem er gerade trinken wollte: „Moment mal! Wieso wir?“
„Ich komme selbstverständlich mit.“ stellte der junge Medikus fest. „Sie würden eine Seuchenquelle gar nicht erkennen. Aber keine Angst ich kann sehr gut auf mich aufpassen.“
Das war fast nicht gelogen, denn immerhin war er in seiner Universitätszeit Mitglied einer schlagenden Verbindung gewesen. Er hatte seinen Teil an Mensuren und Duellen hinter sich gebracht. Das war nur leider schon sechs Jahre her und er hatte sie alle verloren.
„Das gefällt mir nicht.“ sagte Scheuermann schien aber keine weiteren Einwände erheben zu wollen. „Morgen früh dann. Ich hol sie ab, Boss.“ Damit verließ er den Raum und ließ sein halbvolles Glas zurück.

Magister Billroth war früh aufgestanden, lange vor Morgengrauen, um fertig zu sein, wenn Scheuermann ihn abholte. Trotzdem saß er noch beim Frühstück, als sein Torwärter den Monsterjäger hereinführte.
Billroth lies sein Gebäck sinken.
„Herr, Scheuermann, sie sind früh dran. Kann ich ihnen etwas anbieten?“
„Nein danke, wir sollten uns beeilen, Magister.“ sagte der Angesprochene, griff sich aber ein warmes Rosinenbrötchen aus dem Korb der vor dem Medikus stand. Mit einem Bissen war das halbe Gebäck verschwunden.
„Nun gut.“ Billroth stand auf und verließ gefolgt von einem schmatzenden Scheuermann das Esszimmer. In der Empfangshalle zog sich das Mitglied des Magistrates von Albisheim eine dicke Lederjacke bester Qualität über seine einfache aber gute Reisekleidung und griff nach einem mit Proviant gefüllten Rucksack. Außerdem legte er einen Gürtel mit Gehänge und Degen an in den er noch eine kleine Pistole stopfte.
„Ich bin bereit.“ verkündete er.
Scheuermann musterte ihn nur beiläufig von oben nach unten, zuckte mit der Schulter und schob sich den Rest des Brötchens in den Mund, bevor er die Tür öffnete und nach draußen verschwand.
Als der Medikus ihm folgte sah er den stämmigen Mann neben einer größeren aber erheblich schmaleren Gestallt stehen. Im fahlen Licht der wenigen Laternen, welche die Oberstadt Albisheims erleuchteten, war es nur schwer zu erkennen, aber der Unbekannte schien ein Elf zu sein. Langes schwarzes Haar war zu einem Zopf geflochten der lang den Rücken herab über der Waldgrünen Lederjacke hing. Der Elf war, wie sollte es auch anders sein, mit einem langen schmalen Bogen bewaffnet und ein Köcher mit Pfeilen hing ihm locker über der rechten Schulter. Er reichte Scheuermann gerade ein ganzes Arsenal von Waffen.
Fasziniert schaute Billroth zu wie sich der Mensch erst ein Breitschwert in eine Schlaufe an seinem Gürtel schob, dem dann noch eine ganze Sammlung von Messern folgte. Als nächstes befestigte er einen Köcher langer Armbrustbolzen an der anderen Hüfte und schwang sich die zugehörige Armbrut an einem langen Lederriemen über die Schulter. Die Waffe war so groß wie ein ausgewachsener Zwerg und Billroth konnte sich fast nicht vorstellen wie ein Mensch den gewaltigen Stahlbogen der Fernwaffe spannen sollte. Schließlich band sich Scheuermann noch einen Buckler an den linken Unterarm und griff nach einem kurzen aber brutal aussehenden Spieß mit langer vierschneidiger Spitze. Billroth hatte eine solche Waffe schon einmal gesehen: Jäger nannten sie „Keilertod“. Alles was der Elf für sich behielt war sein Bogen und ein langes Messer, nicht ganz ein Schwert.
„Nun,“ fragte Billroth als Scheuermann fertig war, „wollen sie mich ihrem Freund nicht vorstellen?“
„Oh, natürlich. Das ist mein Partner Lias Lordan. Ein Elf aus den Wäldern Bretonias.“
Der Magistrat ging einen Schritt auf den Elfen zu und reichte ihm die Hand. „Freut mich sie kennen zu lernen. Mein Name ist Magnus Billroth.“
Keine Reaktion. Nach ein paar Augenblicken peinlichen Schweigens lies der Medikus seine Hand sinken. „Was ist los, hab ich etwas Falsches gesagt? Scheuermann, warum sagt er nichts?“
Der Monsterjäger zuckte nur mit den Schultern, wand sich zum gehen und sagte gelassen:
„Ich glaube er spricht unsere Sprache nicht.“
„Er…Sie glauben er spricht unsere Sprache nicht?“ stotterte Billroth, aber der Monsterjäger war schon ein paar Schritte voraus und lies den verdutzten Magistraten stehen.

Sie beschlossen, das unterirdische Labyrinth durch den Brunnen auf dem Marktplatz zu betreten. Als sie die freie Fläche betraten warf die Sonne gerade die ersten Strahlen über die wie zusammengekauert dastehenden Häuser. Die Werkstädten der Handwerker hier am Markt waren schon zum Leben erwacht. Gesellen machten Feuer, bereiteten das Frühstück vor oder gingen anderen Arbeiten nach, während ihre Meister oben in den Stuben noch ihren Träumen nachhingen.
Lias Lordan ließ das Seil, dass er mitgebracht hatte in den Tunnel hinab, um dann selbst elegant in der Öffnung zu verschwinden.
„Jetzt sie.“ wies Scheuermann Billroth an. „Klettern sie das Seil hinab, Lias wird es so halten, das sie am Ufer des Flusses landen.“
Also kletterte der Medikus über den Rand des Brunnens und hängte sein ganzes Gewicht an das Seil. Schnell merkte er wie sehr er aus dem Training und vor allem wie schwer sein Rucksack war. Nach kaum zwei Handgriffen war er erschöpft, er konnte nicht weiter, jedoch konnte er auch nicht wieder hinauf. Er hing in dem engen Schacht, der sich unter ihm höhlenartig erweiterte und er konnte das rauschen des Flusses dort unten hören. Ein zwei Sekunden hing er nur so da: beide Hände und die Beine um das Seil gelegt, dann begann er zu rutschen: Erst langsam, dann immer schneller. Schließlich schoss er durch den Schacht und über den Fluss auf den Elfen zu, der am Ufer stand und das Seil festhielt. Im allerletzten Moment sprang der zur Seite, sodass Billroth neben ihm auf den Boden schlug. Fluchend riss sich der Arzt die glutheißen Handschuhe von den Fingern. Wäre er nur ein bisschen schneller geworden, wären es nun seine Handflächen und nicht nur das Leder der Handschuhe, die verschmort wären.
Verlegen dreht er sich zu dem Elfen um sich zu entschuldigen, aber der schaut ihn nur ausdruckslos an, die eine Augenbraue leicht gehoben.
Eine Berührung an seiner Schulter lies ihn erschrocken herum fahren. Scheuermann war so schnell und lautlos das freischwingende Seil herunter gekommen, dass Billroth in nicht bemerkt hatte. Jetzt grinste er dem erschrockenen Magistrat ins Gesicht, sagte aber nichts. Doch Billroth sah den Spott und glaubte selbst von dem schweigsamen Elfen ein leises Glucksen zu hören.
Sollten sie sich nur über ihn lustig machen. Er wusste, das er kein Abenteurer war wie sie, aber er wusste auch, das er diese Expedition persönlich begleiten musste um dieser Krankheit ein für alle mal einen Riegel vor zu schieben. Das schuldete er dem kleinen Mädchen aus dem Seuchenhaus und allen Bürgern dieser Stadt, die ihm vertrauten. Der Spott eines solchen Höhlenmenschen und seines grenzdebilen elfischen Freundes konnte ihn nicht interessieren.
Billroth blickte sich um. Es war dunkel hier unten und, oh wunder, feucht. Scheuermann hatte eine Laterne angezündet und leuchtete mit ihr ihren Weg den Fluss hinauf aus. Das Ufer war schmal und oft würden sie in das flache Wasser waten müssen, aber darin sah Billroth keine Gefahr. Überhaupt konnte er bis jetzt noch keine Anzeichen einer Verschmutzung ausmachen.
Er entzündete seine eigene Laterne und folgte schweigend seinen beiden Begleitern den Fluss hinauf.
Sie waren kaum unterwegs, als Scheuermann plötzlich stehen blieb. Er klemmte sich die Laterne an den Gürtel und nahm den „Keilertod“ in beide Hände. Erst konnte Billroth nicht sehen, was den Monsterjäger zu solcher Vorsicht veranlasste, aber als er an die Biegung des Flusses kam er es auch. Ein kleiner vermoderter Steg führte auf den unterirdischen Fluss hinaus.
„Ein Schmuggler Versteck.“ flüsterte er zu sich selbst.
Als er näher kam konnte er auch eine Höhle erkennen, in der Scheuermann nun verschwand. Ein fauliger Gestank kam aus dem schmalen Höhleneingang, drinnen war es bis auf ihre Laternen Dunkel und zuerst sah Billroth nur die vielen Kisten, die meterhoch an den Wänden des kleinen Raumes aufgestapelt waren, einige der Behälter waren mit Schimmel überzogen, ein sicherer Hinweis auf den verderblichen Inhalt. Erst ein unverständliches Brummen des Monsterjägers machte ihn auf den Körper aufmerksam, der in der Mitte des Raumes lag: Ein Mensch lag tot und halb verwest auf dem Bauch.
Dem äußeren Anschein nach musste er schon eine Weile tot sein, nicht jedoch länger als ein paar Monate. Billroth schob Scheuermann beiseite. „Lassen sie mich mal sehen.“
„Was wollen sie von dem noch?“ fragte der abfällig.
„Ich will sehen, ob ihn die Seuche geholt hat.“ Die Erwähnung der Krankheit allein lies Scheuermann erschrocken zurückweichen. Billroth verdrehte die Augen. Diese ach so tapferen Krieger fürchteten nichts mehr als eine Seuche. Die Vorstellung von einem Feind niedergerungen zu werden dem sie nicht in die Augensehen konnten war so erschreckend für sie, wie für Billroth die Vorstellung einer körperlichen Auseinandersetzung.
Der Medikus ging auf die Knie und packte den Leichnam bei Schulter und Hüfte und drehte ihn um. Die Handschuhe würde er später wohl sicherheitshalber verbrennen. Kaum konnte er einen Blick auf die Brust des toten Schmugglers werfen war ihm klar, dass zumindest der nicht an der Krankheit gestorben war.
Billroth stand auf und zog seine Handschuhe aus. Aus einer Laune heraus warf er sie Scheuermann zu. Im Reflex fing der sie auf um sie dann mit einem erschrockenen Keuchen wieder fallen zu lassen. „Was zur Hölle…“
„Keine Sorge Herr Scheuermann. Dieser Mann ist nicht an der Seuche verendet.“
„Woher wollen sie das wissen?“
„Nun,“ antwortete Billroth mit Belustigung in der Stimme, „Ich schließe es aus dem Loch das ihm jemand in die Brust gerissen hat.“ Tatsächlich klaffte in der Brust der Leiche ein fast eine Elle langer Riss.
Der Monsterjäger warf einen genaueren Blick auf die Leiche. Dann nickte er.
„Verstehe. Das ist aber kein Grund sich so zu freuen. Was immer das war, ist vielleicht noch hier.“

Jeder Schritt den sie jetzt gingen war ein Alptraum für Billroth. Der Lichtkegel seiner Laterne suchte nervös die Wände der Flusshöhle ab und verlor sich immer wieder in der Schwärze vor und hinter ihnen. In seinem Kopf kreisten die Bilder der verschiedensten Monster. Bisher hatte er eher damit gerechnet ein verendetes Tier oder ein Gewächs in diesen Höhlen zu finden, aber jetzt…Scheuermann hatte recht: Was konnte den Schmuggler so zugerichtet haben? Was trieb sich hier unten bloß herum? Hatten die Volkssagen doch recht? Sahen sie sich am Ende einem Seuchengnom gegenüber, jenen Bestien, die angeblich auf den Böden vergifteter Brunnen saßen und aus der Dunkelheit ihre Opfer anstarrten um mit ihrem Blick allein Krankheit und Tod in ihre Körper zupflanzen? Wie könnten sie etwas besiegen, das mit seinem Blick tötete? Oder hatte eine Höhlenspinne den Schmuggler getötet? Billroth hatte gehört, diese Bestien könnten übermannsgroß werden und sie lauerten an der Decke hängend auf ihre Opfer! Wieder suchte er die Decke ab. Ein kalter Schauer lief ihm das Genick hinab. Seit sie die Schmugglerhöhle verlassen hatten fühlte er sich beobachtet und an seiner Position, ganz am Ende ihrer kleinen Kolonne, gänzlich unbehaglich. Waren das nicht Schritte hinter ihm? Hörte er nicht ein leises Schlurfendes Geräusch, fasst gleichzeitig mit ihren Schritten?
Es dauerte einen Augenblick biss er seine Schwertscheide als Quelle des Geräusches identifizierte, welche bei jedem seiner Schritte nur ganz leicht den Boden streifte. Einen Moment war er erleichtert, aber die aufkommende Panik lies ihn nicht los. Immer neue Geräusche glaubte er zu hören. Er fror. Erst schob er es auf seine Angst, aber nein, es wurde tatsächlich kälter. Empfindlich kälter. Eine Vorahnung lies ihn sich erneut umschauen und diesmal sah er etwas: Ein grünliches Glimmen kam auf dem Fluss auf sie zu. Ein Licht wie von einer Laterne weit entfernt.
„Runter!“ knurrte Scheuermann „Und nicht bewegen.“
Billroth ging auf dem kiesigen Weg in die Hocke. Zwischen all den Steinen, die im Laufe der Zeit aus der Decke der Höhle gebrochen waren, konnte man sie vielleicht tatsächlich nicht sehen.
„Löschen sie ihre Laterne, Billroth.“
Scheuermann hatte recht, dennoch brauchte der Medikus einen Moment sich dazu durchzuringen, aber schließlich saßen sie da: frierend in absoluter Dunkelheit. Und sie froren tatsächlich. Die Temperatur schien um zwanzig Grad gefallen zu sein und mit jedem Grad kam die grüne Laterne näher. Endlich hörten sie auch ein Geräusch: Das von Knarren von Holz auf Leder, die Melodie schwerer Ruder, die sich in ihren Schlaufen bewegten. Sie hörten nur die Ruder, nicht aber das Wasser. Kein rhythmisches Eintauchen, kein fröhliches Spritzen. Nur das monotone Klagen der Riemen.
Ein Kribbeln stieg dem Magistrat in den Hals. Ein leichter Hustenreiz. Seine Stirn wurde schweißig nass und er spürte förmlich wie sich seine Nase mit Schleim füllte. Jeder Riemenschlag dröhnte in seinem Kopf und seine Brust schmerzte. Immer heftiger wurde der Hustenreiz. Würde er jetzt noch einmal versuchen Luft in seine schleimgefüllten Lungen zu saugen, er könnte einen Hustenkrampf nicht verhindern. Man würde ihn hören und sie wären entdeckt, also hielt er die Luft an.
Gerade als er glaubte er müsse sterben glitt ein schwarzer Kahn an seinem Versteck vorbei. Nicht nur die Laterne am Bug der moderigen Barke leuchtete giftig grün, nein, das ganze Boot schien in dieser Farbe zu schimmern. Noch unheimlich war, dass es eine handbreit über dem Wasser zu schweben schien und sich die Ruder tatsächlich nur durch Luft bewegten.
Auch im Wasser unter dem Kahn war der grüne Schimmer zu sehen, er breitete sich aus wie eine gespenstige Bugwelle. Die Ruderer waren nicht zu sehen. Auf der Barke stand eine einzelne Gestallt in Lumpen gehüllt und nach vorne gebeugt, von Fliegen umschwirrt.
Billroths Blick folgte dem Boot und noch immer wagte er nicht zu atmen. Seine Luge schrie und vor seinen Augen tanzten bunte Blitze. Als er es endlich nicht mehr aushalten konnte war das unheimliche Geisterschiff schon an ihnen vorbei. Er atmete ein und herrliche frische, warme Luft strömte in seine freien Lungen. Der Hustenreiz war fort, genau wie Kopfschmerz und Brustenge. Die Temperatur war wieder angestiegen und als der letzte schlimmer grünen Lichts verschwand war ihnen als wäre nichts gewesen.
„Da haben sie ihren Seuchenherd.“ stellte Scheuermann lakonisch fest.
„Bei Shallaya, was war das?“ fragte Billroth entgeistert.
„Magie, was sonst.“

„Aber warum?“ Sie folgten dem unterirdischen Flusslauf weiter. Sie hatten beschlossen dieser Sache auf den Grund zu gehen, also würden sie den Magier stellen und töten.
„Das gibt doch keinen Sinn. Wer würde einen solchen Aufwand betreiben um Albisheim zu schaden?“ Billroth war zu sehr Wissenschaftler um andere als logische Maßstäbe an zu legen.
„Habt ihr nicht gesagt, der Fluss geht bis fast an Marienbad heran?“ antwortete Scheuermann.
„Da habt ihr euren Grund.“
„Ihr meint, die Seuche soll Marienbad treffen? Das ist ja entsetzlich! Wir müssen sie Aufhalten!“
„Genau.“
Lias Lordan war ein Stück voraus gegangen, er hatte die besten Augen, und konnte auch ohne Laterne recht gut sehen. Nun war er in die Knie gegangen und hob die Hand, als Zeichen, das die beiden anderen schweigen sollten.
Als sie bei dem Elfen ankamen, sahen sie was er entdeckt hatte. Vor ihnen öffnete sich die Höhle in eine weite Kammer. Irgendwann in der Vergangenheit musste ein guter Teil der Decke herabgestürzt sein und so schlängelte sich der unterirische Fluss nun an einem breiten Strand aus Schutt und Kies vorbei. Auf diesem Strand lag das schwarze Boot. Die grüne Laterne war aus, aber die zerlumpte Gestallt des Magiers stand noch immer am Heck. Eine kleine Prozession von vielleicht einem Dutzend halbnackter, tätowierter Gestalten schleppte leblose Körper aus dem Boot. Beobachtet würden sie von zwei aufgequollenen Männern in rostigen Rüstungen. Sie hätten wie heruntergekommene Soldaten wirken können, wäre nicht zwischen ihren Panzerplatten eine eitergelbe Flüssigkeit heraus getropft. Die Kultisten trugen ihre Fracht den Strand herauf, zu einem riesigen Kessel, der Billroth auf abartige Weise an einen jener Kessel erinnerte in denen die Eingeborenen Lustrias angeblich fremde Eindringlinge brieten.
Jeder der Akolythen warf seine Last in diesen brodelnden Sud.
„Das sieht seltsam aus.“ stellte Scheuermann fest.
„Sind das Seuchenopfer?“ Billroth glaubte einige der typischen Veränderungen an den Leichen fest zu stellen. „Einer meiner Kollegen an der Universität glaubte dass sich eine Schule des Chaos damit beschäftigt gefährliche Krankheiten zu erschaffen. Aber,“ er zögerte und rümpfte angewidert die Nase, „Ich habe mir etwa mehr Wissenschaftliches vorgestellt.“
„Tut mir Leid wenn das hier nicht ihren hehren Vorstellungen entspricht.“ kanzelte Scheuermann ihn ab.
Billroth hatte es Leid, das der Andere ihn absichtlich falsch verstand und ihm die Worte im Mund verdrehte. Aber daran konnte er wohl nichts mehr ändern. Aus irgendeinem Grund hatte Scheuermann ihn gefressen. Sei es drum, er war es gewohnt, dass die geistig armen ihre Minderwertigkeitsgefühle auf solch stupide Art kompensierten.
Der Monsterjäger gestikulierte einen Moment mit dem Elfen herum, dann schlichen beide näher an den Feind heran. Lias Lordan hatte einen Pfeil aus seinem Köcher gezogen und Scheuermann hielt die gespannte Armbrust in der einen Hand, den „Keilertod“ hatte er in der anderen. Billroth glaubte es sei an der Zeit sich nun auch zu bewaffnen, also zog er seine Pistole und folgte den Beiden mit einigem Abstand.
Hinter einem Felsen ging das Duo in Deckung. Scheuermann legte seinen Spieß ab und nahm mit der Schusswaffe Mass. Einen Augenblick später schossen Pfeil und Bolzen auf ihre Ziele zu. Der Bolzen fuhr einem der Krieger in den Rücken der grunzend zu Boden ging. Gleichzeitig traf der Pfeil den Magier. Blitzschnell fuhr der herum, doch ein zweites Geschoss des Elfen bohrte sich in seine Brust und warf ihn nieder.
Schneller als Billroth gucken konnte stürmte der verbliebene Krieger auf den Felsen zu, hinter dem Scheuermann kniete. Der lies die Armbrust fallen und riss seinen Spieß mit beiden Händen hoch. Wie im Wahn drängte der Chaoskrieger nach vorn und spießte sich selbst auf der Waffe auf. Scheuermann verzog angewidert das Gesicht, als er spürte, wie der Speer die Brustplatte durch stieß und anstatt in festes Fleisch durch eine puddingartige Masse glitt.
Unbeeindruckt von der eigentlich tödlichen Verletzung packte der Krieger den Monsterjäger an den Schultern und schleuderte ihn in den Fluss. Lias Lordan war sofort über seinem Gegner. Er riss sein langes Messer aus dem Gürtel und mit drei Bewegungen, die vor Billroths Augen schier verschwammen, hatte er dem Chaosanhänge beide Hände abgetrennt und die Kehle aufgeschnitten. Sofort schob er das Messer zurück und schoss auf die anstürmenden Kultisten. Zwei von ihnen waren tot bevor sie den Elfen erreichten und der Tanz von vorne begann.
Prustend tauchte Scheuermann aus dem Wasser auf. Er zog sein Breitschwert und stürmte seinem Freund zur Hilfe. Das alles war so schnell gegangen, das Billroth noch nicht einmal dazu gekommen war seine Waffe auf einen Gegner an zu legen.
Scheuermann und Lias Lordan wüteten unter ihren Gegnern wie zwei Berserker und so konnten ihre schlecht bewaffneten und ungerüsteten Widersacher nicht lange standhalten.
Nur Augenblicke später war es vorbei. Die Chaosanbeter waren tot oder lagen sterbend am Boden. Die Tüchtigkeit der Monsterjäger war beeindruckend. Scheuermann wischte seine Klinge an dem Lendenschurz eines Toten ab und drehte sich zu Billroth um. Der riss seine Pistole hoch und schoss. Erschrocken starrte ihn der Monsterjäger an, biss er dem Blick seines elfischen Begleiters folgte. Im Fluss trieb die Leiche des Magiers an ihnen vorbei. Zwei Pfeile in der Brust und eine Kugel in der Stirn.
„Danke.“ sagte Scheuermann und der Medikus spürte, dass er es ernst meinte.
„Ich habe zu danken. Albisheim dankt ihnen.“ erwiderte er und grinste.


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