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LENNART PETERSEN - "VOGELFLUG"

Es war eine dunkle und schwere Nacht, als sie mich absetzten, und den Fallschirm hatte ich am Rande der Stadt in einer der Hausruinen versteckt, und ich hatte nur das Nötigste bei mir, als ich mich auf den kurzen Weg machte. Wir hatten die Stellungen des Feindes hoch und damit risikolos überflogen, dafür war der Sprung kompliziert gewesen, aber doch kein wirkliches Problem, und ich hatte mir genügend Einsatzkarten des Gebietes angesehen, um mich nun ungehindert in der Schuttwüste zurechtzufinden. Die hohlen Augen zerschossener Fenster begleiteten mich auf meinem Weg und leere Türöffnungen gähnten mir grabesstill entgegen. Ich hatte keine Freunde, wo ich mich befand, und nur das in graue Leinen eingewickelte, kalte Metall meines Gewehres flüsterte tröstliche Worte in der Dunkelheit.
Es waren klare Anweisungen, die meine Schritte lenkten, und meine Bewegungen waren aus Todesangst fließend, nicht aus Perfektion. Ich war ersetzbar, und meine Befehle nur ein kleines Rädchen im großen Gefüge imperialer Strategie. Ich war einer der verhallenden Krähenschreie über dem gepeinigten Boden eines geschlachteten Feldes.
Unsere Informanten arbeiteten besser, als ich es erwartet hatte, und das Gebäude, in das ich kroch, war größtenteils einem der vielen Bomberangriffe zum Opfer gefallen. Hier war niemand, die Patrouillen hatte ich umlaufen, wo ich sie fand, und ihre hellen Lichtkegel suchten erfolglos meine Schatten in den Betongerippen dieser Welt. Ich war einer unter vielen, und weil ich unentdeckt war, dachte ich, dass ich gut war. Manchmal glaubt der, der lebt, wenn er lang genug dabei ist, dass er deswegen gut ist, weil er noch lebt.
Die kleine Öffnung war wohl von einem gewaltigen Querschläger in die karge Wand gerissen worden, und ihre Art, wie sie leicht nach unten abfiel, gereichte meinen Zwecken zur Genüge. Mein Auge an den kalten, bröckelnden Putz drückend konnte ich im Dämmerlicht einer frierenden Hauslampe die geduckte Baracke erkennen, die auf allen Gefechtskarten mit dem zielenden Kreuz markiert war. Ein gedrungener, erdfarbener Bau mit kleinen, vorhanglosen Fenstern, durch die der matte Schein flackernder Kerzen schimmerte. Ein einsames Zuhaus.
Ich lehnte mich zurück und machte es mir so bequem wie möglich. Wenige würden mich hier vermuten, ich saß im geschwärzten Nichts des Eckenschattens, den der Mauerrest warf, und hier im zweiten Stock des zerdrückten Gebäudes leisteten mir nur die zerbrochenen Ziegel der einstigen Zivilisation stumme Gesellschaft.
Man ist oft allein, wenn man sich für diesen Weg entschieden hat, aber wer ist das in den Wogen des ewigen Schlachtens nicht. Der spröden Kameradschaft frontnaher Zellengenossen in der imperialen Befehlshierachie war jede Wärme fremd, und wen man eines Morgens mit Handschlag verabschiedete, konnte man einige Stunden später in Stücken über rauchender Erde verteilt liegen sehen. Die Lebenstage wurden kürzer und die schlaflosen Nächte länger, und wir lebten nicht mehr füreinander, sondern für uns, oder manchmal nur deswegen, weil wir viel zu oft die Alternative zu diesem Leben in den Lazaretten sahen.
Es dämmerte fast, als ich die wummernden Motoren vernahm, und während mein eingeschlagenes Scharfschützengewehr schussbereit in der Mauerkante lag, nahm ich den Feldstecher an die Augen. Es war eine kleine Entfernung bis zu der Baracke, und als mein Blick auf die sich angstvoll in den Rahmen drängende Tür des Hauses fiel, öffnete sie sich, als wolle sie erschrocken vor mir fliehen. Erst geschah nichts, dann machte ein kleines Kindchen ungelenke Schritte hinaus, stapfte sehnsüchtig über den wirbelnden Staub und drückte einen kleinen, vielfach geflickten Stoffbären erwartungsvoll an seine Brust. Das kleine Leibchen und die viel zu lange Hose, mehrfach gekrempelt, waren aus alten Uniformen geschneidert und eine dünne Kapuze aus leinenen Unterhemden genäht. Unter ihr blickten zwei nahe, klarblaue Augen in die zerstörte Welt und das feine, etwas magere Gesicht mit den strähnigen, dunklen Haaren war das eines zur falschen Zeit, vielleicht vor knapp zwei Jahren geborenen Mädchens. Hinter ihr, im Türrahmen lehnend, wartete die Mutter, denn sie hatte die gleichen Züge und das gleiche, zartfreudige Lächeln um die müden, zerfurchten Lippen.
'Weißt Du, Kleines', sagte ich, und ich legte den Feldstecher beiseite, um nach meinem Gewehr zu greifen: 'In diesen Monaten geht wohl niemand so gern vor die Tür wie Du. Nicht einmal deine Mutter, denn sie weiß, nach welchen Spielregeln sich ihre Welt dreht. Du nicht. Du hast deinen Stoffbären im Arm und dein kleines Herz erwartet ungeduldig den Vater. Du gehörst hier nicht her, denn Du passt nicht in diese Welt, in der es nur den rußschwarzen Tod unter den Fackeln des ewigen Krieges gibt.'
Ich presste den hölzernen Kolben des Gewehres an meine Schulter, meine Worte drangen als feuchtwolkiger Atem tonlos aus meinem Munde.
'Es gibt viele Mädchen wie dich, denn es gibt viele Welten wie diese, und viele Männer wie deinen Vater. Männer, die etwas zu sagen haben, und das Falsche sagen, wenn sie es tun. Sie stellen sich gegen die Ordnung der Welt, von der Du nichts verstehst, denn sie hat wenig mit dir, mit deinem Stoffbären zu tun. Du blickst aus unwissenden Knopfaugen auf diese Welt, genau wie er, und Du verstehst nicht, dass es zu Männern wie deinem Vater immer Männer wie mich gibt, die auf das schiessen, was deine Väter sagen.'
Das einsame Metall des Gewehrlaufes biß sich mitleidlos in meine Wange, als ich durch das einfache Zielfernrohr blickte.
'Ich töte nicht, weil es mir eine Ideologie befiehlt. Wenn es nach mir ginge, gäbe es sicherlich einen hübschen Frieden auf allen Welten. Mit warmen Sommertagen und Spielplätzen mit Schaukeln in den Vororten, und Menschen würden einander kennen und beim Vornamen nennen, ohne Salutieren und Schulterklappen und Ränge. Aber so ist die Welt nicht, und unter dem Imperialen Adler ist kein Platz für Individualisten, für Weltverbesserer. Und wenn unter ihm kein Platz ist, dann ist nirgends Platz in den Weiten des Universums für sie.'
Mein klammer Finger entsicherte mechanisch die Waffe.
'Ich töte, weil dein Vater genau zwei Scheiben Brot pro Tag wert ist. Zwei Scheiben Brot und einen Becher Wasser, manchmal auch noch zwei Zigaretten dazu, oder einen Kaffee. Weißt Du, jeder von uns vorn in den Gräben versucht, sich die wenigen Tage, die er noch hat, so schön wie möglich zu machen. Und unsere letzten Tage sind sehr hässlich, denn wir haben keine Mütter mehr, und keine Väter, und auch keinen Stoffbären, den wir an unsere kranken Herzen drücken können. Wir haben nichts mehr außer unsere müden, ausgemergelten Körpern, und wir merken nur noch, dass wir leben, wenn wir essen und ruhen, wenn wir traumlos dahindämmern.'
Ich zielte auf den Mann, der aus dem Militärwagen stieg, mit den hochschaftigen Stiefeln und der verdreckten Oberstuniform. Ich achtete nie zu sehr auf Gesichter, damit sie mich nicht so lang verfolgten.
'Weißt Du, man hat mir damals angeboten, weil ich so gut schoss, zu den Spezialkräften zu gehen, gezielter zu töten. Weg von den einfachen Halsabschneidern, die gestern schon nicht mehr lebten, und hin zu zwei Scheiben Brot mehr am Tag. Und einem Becher Wasser, manchmal auch zwei Zigaretten oder Kaffee. Das ist das, was für uns zählt, wenn wir morgens unsere verklebten Augen öffnen und aus dem Verhau hinaus in die wabernde Müdigkeit der Gräben blicken. Viele machen ihre Augen gar nicht mehr auf. Verstehst Du, was ich dir sage, Kleines?'
Der Mann kniete sich hin. Und lächelte. Das Kind hatte die Arme weit geöffnet und ich glaube, es lachte, und die Mutter lächelte, und vielleicht lächelte sogar der trübe, weinende Mond ein wenig.
'Manchmal gibt es sogar zwei Tage Fronturlaub, weißt Du. Zwei volle Tage. Und dann sind unsere Augen voller Schnaps und unsere Mägen voller Brot und auch wir lachen dann, weißt Du, manchmal, an solchen Tagen.'
Das Kind begann, auf den Mann zuzulaufen mit kleinen, mühevollen Schritten, und der Mann breitete nun auch die Arme aus, und die Welt stand still, und ich hielt den Atem an, die ganze Welt hielt den Atem an.
Da schoss ich.
Die Kugel verließ gedämpft das lange Rohr und riss ein faustgroßes Loch in seinen Kopf, sodass er hinten über in den Staub fiel, und Blut an den Wagen klatschte. Es ging sehr rasch und ich dachte, Du hättest vielleicht nichts gesehen, weil es so schnell ging, und die Welt drehte sich weiter, als ich meine Sachen nahm und mich davon machte, und ich fühlte mich nicht schlecht, nur leer. Und 'Adé Kleines' flüsterte ich noch, dann verschlang mich der Gespensterreigen der Ruinen, und meine Gedanken versteckten sich wieder weit hinter den metallischen Schwingen des stummschreienden Adlers der imperialen Armee.

Der Autor
"42!"

Die Jury
"Eine zynisch-poetische Reflektion eines Scharfschützen, welche die zurechtgerückte Moral des ausführenden Soldaten wunderbar einfängt und in all ihrer Bitterkeit wiedergibt. Man verfolgt den Inneren Monolog des abgeklärten Schützen gespannt bis zum unausweichlichen Ende, auch wenn schnell klar wird, worauf es hinausläuft. Der Schluss ist sehr gut gelungen, ein schöne dunkle FilmNoir-Stimmung macht sich breit, die man sich gut im Schwarzweiß von Frank Millers 'Sin City' vorstellen könnte."

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